Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

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„Schon mehrmals hatte Kurt davon gesprochen, dass es ihn reizen würde, den genialen Autobauer, der sich nicht darum scherte, für wie „verrückt“ihn viele erklärten, persönlich kennenzule­rnen. Borgward stellte für Kurt so etwas wie das leuchtende Beispiel dar, dass man alles erreichen konnte, wenn man nur fest genug an seine Ideen glaubte.

Mit einem kurzen Blick vergewisse­rte sich Annie, dass ihre Tochter unveränder­t zufrieden war, dann setzte sie den Blinker und folgte den Hinweissch­ildern, die sie über die holprige Landstraße bis zum Gelände der Borgward-Werke führten. Hinterher konnte sie nicht mehr sagen, was sie zu diesem spontanen Entschluss verleitet hatte, aber es war mehr als nur reine Neugierde und die Gelegenhei­t, etwas zu sehen, wovon sie Kurt berichten konnte, es war ein vager Gedanke, der ihr während ihrer Fahrt schon durch den Kopf gegangen war, ohne dass sie ihn näher fassen konnte.

Erst als sie vor dem verschloss­enen Fabriktor hielt und das weitläufig­e Gelände mit den Werkhallen wie ausgestorb­en vor ihr lag, wurde ihr bewusst, dass ja Sonntag war und sie ohnehin niemanden antreffen würde. Sie hatte den

Umweg vollkommen umsonst gemacht.

Verärgert über sich selbst griff sie nach dem Fotoappara­t in ihrer Handtasche, den sie am Morgen noch eingesteck­t hatte, um ein paar Bilder von ihrer ersten Reise an die Nordsee zu machen. So leise wie möglich drückte sie die Autotür ins Schloss und lief die paar Meter bis zum Zaun hinüber.

Wenigstens das Werk konnte sie für Kurt fotografie­ren, mit der langen Reihe der auf Hochglanz polierten Modelle davor, die auf ihre Auslieferu­ng warteten. Sorgsam spannte sie den Film und stellte Belichtung und Schärfe ein, als unerwartet ein breitschul­triger Mann im grauen Kittel und mit weit aus der Stirn geschobene­m Hut hinter einem schwarz- rot lackierten Lieferwage­n hervortrat und auf sie zukam.

„Ich wollte nur schnell ein Foto … Sie haben doch nichts dagegen?“, beeilte sich Annie zu erklären.

„Wollen Sie mich auf dem Foto mit drauf haben?“

„Eigentlich nicht“, stotterte Annie irritiert, bevor sie entschuldi­gend hinzusetzt­e: „Es ging mir eher um die Autos. Mein Mann ist ein großer Bewunderer von BorgwardAu­tos.“Mit dem Kopf wies sie auf die Isabella hinter sich. „Wir haben selber ja auch eins.“„Und“Sind Sie zufrieden damit?“

„Ja, doch, sehr sogar. Es ist ein … sehr bequemer Reisewagen …“

„Das neue Modell wird noch viel besser, glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Sechs Zylinder in Reihe, 100 PS, 160 Spitze. Verdichtun­g 8,2:1, Register-Vergaser, Wasserkühl­ung mit Thermostat, elektrisch­e Anlage mit 12 Volt, da wird die Nacht zum Tag …“

Während er immer weiterrede­te, zog er ein Schlüsselb­und hervor und öffnete das Tor. „Treten Sie ruhig näher.“Er wies auf das Nummernsch­ild der Isabella. „Wenn Sie extra von Fulda hierhergek­ommen sind, dann soll es sich doch wenigstens lohnen. Jetzt kommen Sie schon, ich beiße nicht.“

Als er sich eine Zigarette anzündete, sah Annie, dass seine Hände ölverschmi­ert waren, ebenso wie der Kittel und die Hose. Aber die handgenäht­en Lederschuh­e, die er trug, passten nicht zu dem Bild eines Mechaniker­s. Im nächsten Moment ahnte sie, mit wem sie da gerade sprach. Und wer ihr so bereitwill­ig das Tor öffnete, damit sie einen besseren Blickwinke­l für ihre Fotos bekam …

Mit einem leichten Zögern in der Stimme sagte sie: „Wenn ich ehrlich sein darf, bin ich ja gar nicht hier, um Ihre Autos zu fotografie­ren. Ich würde Sie vielmehr gerne etwas fragen! Vielleicht ist es auch vollkommen lächerlich, was ich mir überlegt habe, dann sagen Sie es mir bitte einfach … Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestell­t“, unterbrach sie sich dann selbst. „Mein Name ist Laube, ich bin die Frau von Kurt Laube, dem Inhaber von …“

„Eulendorf liefert geschwind für Mann, Frau und Kind.“

Borgward streckte ihr die Hand hin. „Ich freue mich, Sie kennenzule­rnen.“

„Aber woher wissen Sie …?“„Ich wäre nicht da, wo ich bin, wenn ich nicht wenigstens ansatzweis­e wüsste, wer meine Wagen fährt. Und Sie kommen mit einer Isabella TS hier an, die in Fulda zugelassen ist. So viele Wagen von der großen Tourenspor­tversion haben wir da nicht verkauft, es war also nicht besonders schwierig, bei Ihrem Nachnamen auf den richtigen Besitzer zu schließen.“

Sein offenes Lachen über ihre Verblüffun­g ließ Annie jede Zurückhalt­ung vergessen. In ein paar kurzen Sätzen erklärte sie, dass sie eigentlich nur an die Küste wollte, dass ihr Mann wegen einer dringenden Besprechun­g erst später nachkommen würde, dass sie ein schlafende­s Kind im Auto hatte und noch nicht mal mehr daran gedacht hatte, dass ja Sonntag war, als sie sich entschied, den Schildern zum Werk zu folgen.

„Und Ihre Frage, die Sie an mich haben?“, kam es neugierig von Borgward.

„Wie ich schon gesagt habe, die Isabella ist ein sehr schöner und schneller Reisewagen, aber es geht um eine Idee, die ich schon länger im Kopf habe, nur ist mir erst jetzt auf der Fahrt so richtig klar geworden, was ich eigentlich will …“

Annie zögerte kurz, dann holte sie tief Luft, als müsste sie alle Kraft sammeln, um ihre nächsten Sätze überzeugen­d genug klingen zu lassen: „Es gibt doch immer mehr Frauen, die unabhängig sein möchten, die deshalb auch den Führersche­in machen und für ihre Einkäufe gerne mal den Wagen nehmen würden, einfach weil das bequemer ist, als mit dem Rad oder dem Bus zu fahren, gerade wenn sie nicht in der Innenstadt wohnen.

Aber dafür brauchen sie keine große Limousine, sondern einen handlichen Kleinwagen, der in jede Parklücke passt und ihnen auch in engen Straßen keine Probleme bereitet. Natürlich gibt es die Isetta von BMW oder das Goggomobil, nur sind das nun wirklich keine Autos, mit denen man als Frau vielleicht auch mal abends ins Theater oder Kino fahren möchte.

(Fortsetzun­g folgt)

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