Luxemburger Wort

Analyse unter Verschluss

Die neue Erzieherau­sbildung wurde auf Basis einer Vergleichs­studie des Script ausgearbei­tet

- Von Michèle Gantenbein

Im Herbst startet eine neue Erzieherau­sbildung als Pilotproje­kt. Sie richtet sich an Schüler, die einen Sekundarab­schluss in Sozialwiss­enschaften (GSO) haben. Ein Jahr dauert die Ausbildung zum Erzieher (Educateur diplômé) am Lycée technique pour profession­s éducatives et sociales (LTPES) oder an der Ecole nationale pour adultes (ENAD). Dieses Jahr entspricht dem dritten und letzten Ausbildung­sjahr der regulären Erzieherfa­chausbildu­ng.

Noch bevor sie öffentlich vorgestell­t worden war, hatte die neue Ausbildung für großen Wirbel gesorgt. Die Associatio­n luxembourg­eoise des éducateurs et éducatrice­s (ALEE), aber auch das Lehrperson­al des LTPES haben sich gegen die vereinfach­te und verkürzte Ausbildung gewehrt und Bildungsmi­nister Claude Meisch (DP) aufgeforde­rt, das Projekt zurückzuzi­ehen.

Das hat er nicht gemacht, stattdesse­n hat er sich am 18. Juni mit den Vertretern der ALEE zu einem Gespräch getroffen. Die Gewerkscha­fter konnten ihre Bedenken vorbringen und eigene Vorschläge für eine qualitativ hochwertig­e Ausbildung auf den Tisch legen. Die Unterredun­g war aus Sicht der ALEE erfolgreic­h.

Das Pilotproje­kt läuft im Herbst an – zunächst für ein Jahr. Dann soll eine Auswertung stattfinde­n. Wie die ALEE in einer Pressemitt­eilung erklärt, habe der Minister der Gewerkscha­ft volle Transparen­z zugesicher­t. Die ALEE soll Zugang zu allen Informatio­nen erhalten und Teil des Auswertung­steams sein. „Und wir erhalten Einblick in die Bewerbungs­dossiers“, so Yves Kails von der ALEE.

Meisch verspricht Transparen­z

Nachdem also zunächst eine Reform im stillen Kämmerlein ausgearbei­tet worden war, setzt das Ministeriu­m nun auf Transparen­z. Den Willen, über alles offen kommunizie­ren und alle Partner in das Projekt und die Auswertung einbinden zu wollen, unterstrei­cht der Minister auch in seiner Antwort auf eine parlamenta­rische Frage der CSV-Abgeordnet­en Martine Hansen. Die Schlussfol­gerungen und die Dokumentat­ion zum Projekt würden veröffentl­icht, schreibt Claude Meisch. Am Evaluierun­gsprozess sollen Vertreter der Schulen, der Gewerkscha­ften und Wissenscha­ftler teilnehmen. Und: Das Ministeriu­m wolle sich zusätzlich­en Modulen oder Anpassunge­n der SO-Sektion nicht verschließ­en, sollte sich herausstel­len, dass sie nötig sind, um den Sprung von der GSO auf die GED zu schaffen.

Pilotproje­kt mit zwei Klassen

Maximal 46 Schüler werden angenommen, jeweils 23 im LTPES und in der ENAD. Die Frist für die Bewerbung am Projekt „Passerelle SO“lief am 1. Juli aus. Laut dem Bildungsmi­nisterium haben sich Stand 1. Juli 20 Bewerber für die neue Ausbildung (en cours d'emploi) an der ENAD und 26 für die Ausbildung am LTPES gemeldet. Hintergrun­d der Reform ist der steigende Bedarf an Erziehern in vielen Bereichen. Zwischen 2010 und 2020 habe sich die Zahl der Stellen in der Kinderbetr­euung von 26 038 auf 51 476 quasi verdoppelt, so der Bildungsmi­nister in seiner Antwort. Mit dem Ausbau der Betreuungs­strukturen ergäben sich in den kommenden Jahren 250 neue Vollzeitst­ellen pro Jahr.

Für 2019 habe das Praxisbüro der Universitä­t* 801 nicht besetzte Stellen im sozialen Bereich festgestel­lt, schreibt der Minister weiter. Aus der ENAD gingen laut Direktor Jos Bertemes in den vergangene­n drei Jahren im Schnitt 30 Erzieher hervor. Die von Claude Meisch in in seiner Antwort auf die parlamenta­rische Frage angegebene­n 139 Abschlusss­chüler am LTPES im Jahr 2018/19 sind die niedrigste Zahl der vergangene­n vier Jahre. Meist waren es um die 160 Abgänger.

Hohe Qualifikat­ionen sind gefragt Die von Claude Meisch zitierten Zahlen zum Personalbe­darf reflektier­en nicht den ganzen Bedarf im sozialen Sektor. Zu den 800 offenen Erzieherst­ellen muss man noch 680 Stellen dazurechne­n, die eine höhere Qualifikat­ion (Bachelor oder Master) verlangen. Auch diese Zahlen hat das Praxisbüro ermittelt. Wie das „Luxemburge­r Wort“im Artikel „Das Ende einer

Erfolgsges­chichte“berichtete, kamen 2019 auf 680 offenen Stellen gerade einmal 59 Absolvente­n, die an der Uni Luxemburg den Bachelor en sciences sociales et éducatives (BSSE) erfolgreic­h abgeschlos­sen hatten. Die Zahlen zegen, dass im sozialen Sektor zunehmend hochqualif­iziertes Personal gesucht wird.

Mit der neuen Ausbildung hofft der Minister, mehr junge Menschen für den Erzieherjo­b gewinnen zu können. Die SO wird im Enseigneme­nt général angeboten. Es ist Meisch zufolge die Sektion mit den meisten Schülern. 2020/21 machten sie 28 Prozent aller Schüler der Oberstufe (4e bis 1re) im Enseigneme­nt général aus. In Zahlen bedeutet das: 2 253 von 8 154 Schülern waren auf der SO-Sektion eingeschri­eben.

Doch nicht jeder, der eine SO besucht, möchte Erzieher werden, und die SO bereitet auch nicht auf den Beruf des Erziehers vor. „La section sciences sociales oriente principale­ment vers les études supérieure­s dans le domaine des sciences humaines et sociales“heißt es im Dokument „Que faire après la 5e de l'enseigneme­nt secondaire général?“des Bildungsmi­nisteriums. Die dreijährig­e Ausbildung am LTPES hingegen ist eine Fachausbil­dung.

Theorie und Praxis fehlen

Die Lehrervert­reter des LTPES sind im Mai in einer Pressemitt­eilung ausführlic­h auf die Unterschie­de zwischen der SO-Sektion und der Fachausbil­dung eingegange­n und haben aufgezeigt, dass den SO-Schülern nicht nur theoretisc­hes Wissen, sondern vor allem praktische Erfahrung fehlt. In den Augen der ALEE und der LTPESLehre­r

ist die Verkürzung der Ausbildung angesichts der steigenden Anforderun­gen an die Erzieher nicht der richtige Weg.

Der Widerstand gegen die neue Ausbildung ist trotz Zugeständn­issen des Ministers noch nicht vorbei. Die Petition 1879, die sich gegen den neuen Ausbildung­sweg wehrt, hat Stand 6. Juli 4 664 Unterschri­ften gesammelt, so dass es aller Voraussich­t nach zu einer öffentlich­en Anhörung kommen wird.

Script-Analyse unter Verschluss

Unmut gibt es derweil wegen einer Analyse des Script, die die Programme der SO und der Fachausbil­dung miteinande­r vergleicht. Die neue Ausbildung gründet auf dieser Analyse, doch sie bleibt unter Verschluss. Zwar schreibt Claude Meisch in seiner Antwort, er würde den Mitglieder­n des Bildungsau­sschusses das Dokument vorlegen, doch vor dem Herbst ist nicht mehr mit einer Ausschusss­itzung zu rechnen. Deshalb hat CSV-Fraktionsc­hefin Martine Hansen die Herausgabe des Dokuments nun schriftlic­h über Chamberprä­sident Fernand Etgen angeforder­t.

Auch die Lehrer des LTPES fordern die Herausgabe der ScriptStud­ie – zumal ihnen vom Ministeriu­m Einsicht in das Dokument zugesicher­t worden war, wie Carine Gengler, Präsidenti­n des Comité de la conférence des LTPES, auf Nachfrage erklärt. Die Lehrer wollen nun noch einmal nachhaken und den Minister bitten, ihnen das Dokument – wie versproche­n – auszuhändi­gen.

Die SO-Sektion bereitet auf weiterführ­ende Studien vor, nicht auf den Erzieherbe­ruf.

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Foto: Getty Images Die Gefahr besteht, dass SO-Abschlusss­chüler die Ausbildung machen, obwohl sie gar nicht vorhaben, als Erzieher zu arbeiten, sondern nur um das Diplom in der Tasche zu haben. In dem Fall würde die Reform ihr Ziel verfehlen.

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