Analyse unter Verschluss
Die neue Erzieherausbildung wurde auf Basis einer Vergleichsstudie des Script ausgearbeitet
Im Herbst startet eine neue Erzieherausbildung als Pilotprojekt. Sie richtet sich an Schüler, die einen Sekundarabschluss in Sozialwissenschaften (GSO) haben. Ein Jahr dauert die Ausbildung zum Erzieher (Educateur diplômé) am Lycée technique pour professions éducatives et sociales (LTPES) oder an der Ecole nationale pour adultes (ENAD). Dieses Jahr entspricht dem dritten und letzten Ausbildungsjahr der regulären Erzieherfachausbildung.
Noch bevor sie öffentlich vorgestellt worden war, hatte die neue Ausbildung für großen Wirbel gesorgt. Die Association luxembourgeoise des éducateurs et éducatrices (ALEE), aber auch das Lehrpersonal des LTPES haben sich gegen die vereinfachte und verkürzte Ausbildung gewehrt und Bildungsminister Claude Meisch (DP) aufgefordert, das Projekt zurückzuziehen.
Das hat er nicht gemacht, stattdessen hat er sich am 18. Juni mit den Vertretern der ALEE zu einem Gespräch getroffen. Die Gewerkschafter konnten ihre Bedenken vorbringen und eigene Vorschläge für eine qualitativ hochwertige Ausbildung auf den Tisch legen. Die Unterredung war aus Sicht der ALEE erfolgreich.
Das Pilotprojekt läuft im Herbst an – zunächst für ein Jahr. Dann soll eine Auswertung stattfinden. Wie die ALEE in einer Pressemitteilung erklärt, habe der Minister der Gewerkschaft volle Transparenz zugesichert. Die ALEE soll Zugang zu allen Informationen erhalten und Teil des Auswertungsteams sein. „Und wir erhalten Einblick in die Bewerbungsdossiers“, so Yves Kails von der ALEE.
Meisch verspricht Transparenz
Nachdem also zunächst eine Reform im stillen Kämmerlein ausgearbeitet worden war, setzt das Ministerium nun auf Transparenz. Den Willen, über alles offen kommunizieren und alle Partner in das Projekt und die Auswertung einbinden zu wollen, unterstreicht der Minister auch in seiner Antwort auf eine parlamentarische Frage der CSV-Abgeordneten Martine Hansen. Die Schlussfolgerungen und die Dokumentation zum Projekt würden veröffentlicht, schreibt Claude Meisch. Am Evaluierungsprozess sollen Vertreter der Schulen, der Gewerkschaften und Wissenschaftler teilnehmen. Und: Das Ministerium wolle sich zusätzlichen Modulen oder Anpassungen der SO-Sektion nicht verschließen, sollte sich herausstellen, dass sie nötig sind, um den Sprung von der GSO auf die GED zu schaffen.
Pilotprojekt mit zwei Klassen
Maximal 46 Schüler werden angenommen, jeweils 23 im LTPES und in der ENAD. Die Frist für die Bewerbung am Projekt „Passerelle SO“lief am 1. Juli aus. Laut dem Bildungsministerium haben sich Stand 1. Juli 20 Bewerber für die neue Ausbildung (en cours d'emploi) an der ENAD und 26 für die Ausbildung am LTPES gemeldet. Hintergrund der Reform ist der steigende Bedarf an Erziehern in vielen Bereichen. Zwischen 2010 und 2020 habe sich die Zahl der Stellen in der Kinderbetreuung von 26 038 auf 51 476 quasi verdoppelt, so der Bildungsminister in seiner Antwort. Mit dem Ausbau der Betreuungsstrukturen ergäben sich in den kommenden Jahren 250 neue Vollzeitstellen pro Jahr.
Für 2019 habe das Praxisbüro der Universität* 801 nicht besetzte Stellen im sozialen Bereich festgestellt, schreibt der Minister weiter. Aus der ENAD gingen laut Direktor Jos Bertemes in den vergangenen drei Jahren im Schnitt 30 Erzieher hervor. Die von Claude Meisch in in seiner Antwort auf die parlamentarische Frage angegebenen 139 Abschlussschüler am LTPES im Jahr 2018/19 sind die niedrigste Zahl der vergangenen vier Jahre. Meist waren es um die 160 Abgänger.
Hohe Qualifikationen sind gefragt Die von Claude Meisch zitierten Zahlen zum Personalbedarf reflektieren nicht den ganzen Bedarf im sozialen Sektor. Zu den 800 offenen Erzieherstellen muss man noch 680 Stellen dazurechnen, die eine höhere Qualifikation (Bachelor oder Master) verlangen. Auch diese Zahlen hat das Praxisbüro ermittelt. Wie das „Luxemburger Wort“im Artikel „Das Ende einer
Erfolgsgeschichte“berichtete, kamen 2019 auf 680 offenen Stellen gerade einmal 59 Absolventen, die an der Uni Luxemburg den Bachelor en sciences sociales et éducatives (BSSE) erfolgreich abgeschlossen hatten. Die Zahlen zegen, dass im sozialen Sektor zunehmend hochqualifiziertes Personal gesucht wird.
Mit der neuen Ausbildung hofft der Minister, mehr junge Menschen für den Erzieherjob gewinnen zu können. Die SO wird im Enseignement général angeboten. Es ist Meisch zufolge die Sektion mit den meisten Schülern. 2020/21 machten sie 28 Prozent aller Schüler der Oberstufe (4e bis 1re) im Enseignement général aus. In Zahlen bedeutet das: 2 253 von 8 154 Schülern waren auf der SO-Sektion eingeschrieben.
Doch nicht jeder, der eine SO besucht, möchte Erzieher werden, und die SO bereitet auch nicht auf den Beruf des Erziehers vor. „La section sciences sociales oriente principalement vers les études supérieures dans le domaine des sciences humaines et sociales“heißt es im Dokument „Que faire après la 5e de l'enseignement secondaire général?“des Bildungsministeriums. Die dreijährige Ausbildung am LTPES hingegen ist eine Fachausbildung.
Theorie und Praxis fehlen
Die Lehrervertreter des LTPES sind im Mai in einer Pressemitteilung ausführlich auf die Unterschiede zwischen der SO-Sektion und der Fachausbildung eingegangen und haben aufgezeigt, dass den SO-Schülern nicht nur theoretisches Wissen, sondern vor allem praktische Erfahrung fehlt. In den Augen der ALEE und der LTPESLehrer
ist die Verkürzung der Ausbildung angesichts der steigenden Anforderungen an die Erzieher nicht der richtige Weg.
Der Widerstand gegen die neue Ausbildung ist trotz Zugeständnissen des Ministers noch nicht vorbei. Die Petition 1879, die sich gegen den neuen Ausbildungsweg wehrt, hat Stand 6. Juli 4 664 Unterschriften gesammelt, so dass es aller Voraussicht nach zu einer öffentlichen Anhörung kommen wird.
Script-Analyse unter Verschluss
Unmut gibt es derweil wegen einer Analyse des Script, die die Programme der SO und der Fachausbildung miteinander vergleicht. Die neue Ausbildung gründet auf dieser Analyse, doch sie bleibt unter Verschluss. Zwar schreibt Claude Meisch in seiner Antwort, er würde den Mitgliedern des Bildungsausschusses das Dokument vorlegen, doch vor dem Herbst ist nicht mehr mit einer Ausschusssitzung zu rechnen. Deshalb hat CSV-Fraktionschefin Martine Hansen die Herausgabe des Dokuments nun schriftlich über Chamberpräsident Fernand Etgen angefordert.
Auch die Lehrer des LTPES fordern die Herausgabe der ScriptStudie – zumal ihnen vom Ministerium Einsicht in das Dokument zugesichert worden war, wie Carine Gengler, Präsidentin des Comité de la conférence des LTPES, auf Nachfrage erklärt. Die Lehrer wollen nun noch einmal nachhaken und den Minister bitten, ihnen das Dokument – wie versprochen – auszuhändigen.
Die SO-Sektion bereitet auf weiterführende Studien vor, nicht auf den Erzieherberuf.