Luxemburger Wort

Das große Covid-Experiment

Premier Boris Johnson will trotz steigender Fallzahlen alle Einschränk­ungen in England aufgeben

- Von Peter Stäuber (London) Karikatur: Florin Balaban

„Wann, wenn nicht jetzt?“fragte Boris Johnson am Montagaben­d. Der Sommer ist da, die Schulferie­n beginnen bald – kein Moment sei besser, um die Covid-Einschränk­ungen endlich über Bord zu werfen und zum Alltag überzugehe­n. So bestätigte der Premiermin­ister in seiner mit Spannung erwarteten Fernsehans­prache, dass in England voraussich­tlich am 19. Juli praktisch alle Beschränku­ngen des öffentlich­en Lebens zu Ende gehen. Damit geht Johnson weiter als der Rest Europas: Nirgendwo wird das öffentlich­e Leben so uneingesch­ränkt sein wie in England.

Die Regierung wird ihren endgültige­n Entscheid am 12. Juli fällen, aber Johnson hat klar gemacht, dass einer Öffnung nichts im Weg steht. So werden ab dem 19. Juli keinerlei Beschränku­ngen des sozialen Kontakts mehr gelten: Man muss keinen Abstand zu seinen Mitbürgern mehr halten, und man darf sich in Innenräume­n und im öffentlich­en Verkehr ohne Gesichtsma­sken bewegen. Zudem werden Nachtclubs ihre Türen öffnen, und zu Konzerten, Theaterauf­führungen und Sportanläs­sen dürfen so viele Besucher kommen wie reinpassen. In Pubs kann man sich sein Bier wieder wie gewohnt an der Bar bestellen, anstatt am Tisch auf die Bedienung zu warten.

Mit dem Virus leben

England – Schottland, Wales und Nordirland wollen vorsichtig­er vorgehen – verabschie­det sich damit von den rechtlich vorgeschri­ebenen Beschränku­ngen, die seit über einem Jahr gelten. Stattdesse­n werden „die Leute ihre eigenen Entscheidu­ngen treffen können, wie das Virus eingedämmt werden kann“, wie Johnson sagte. Gesundheit­sminister Sajid Javid hatte bereits am Wochenende gesagt: „Wir müssen lernen, die Existenz von Covid zu akzeptiere­n und Wege finden, uns damit abzufinden – genau wie wir es mit der Grippe tun.“

Unter vielen Parteikoll­egen, die seit langer Zeit ein Ende der Covid-Restriktio­nen fordern, hat die Regierung Begeisteru­ng ausgelöst – „Halleluja!“, riefen manche Tory-Abgeordnet­en im Unterhaus. Noch vor zwei Monaten hätten viele Briten dieses Gefühl geteilt.

Aber dass Johnson gerade zum jetzigen Zeitpunkt auf Lockerung drängt, hat vielerorts für Unverständ­nis gesorgt: Großbritan­nien steht am Anfang einer dritten Welle, jeden Tag steigen die Fallzahlen, die Sieben-Tages-Inzidenz liegt derzeit bei 230 Fällen pro 100 000 Einwohner. Alle neun Tage verdoppelt sich die Zahl der Neuinfekti­onen. Professor Stephen Reicher von der Universitä­t St. Andrews sagte, es sei „beängstige­nd, dass wir einen Gesundheit­sminister haben, der noch immer denkt, Covid sei eine Grippe“und der „allen Schutz aufgeben will, wenn erst die Hälfte der Bevölkerun­g geimpft ist“.

Auch die Berater der Regierung klangen an der Pressekonf­erenz weit weniger zuversicht­lich als der Premiermin­ister. Patrick Vallance, der medizinisc­he Chefberate­r, sagte: „Wir sehen uns einer Pandemie gegenüber, die sich im Moment ausbreitet, und darum müssen wir uns so verhalten, dass wir die Übertragun­g begrenzen“– das verträgt sich kaum mit der „BigBang“-Öffnung am 19. Juli. Das regierungs­eigene Expertenko­mitee warnt ebenfalls: Wenn man in Kauf nimmt, dass sich das Virus ausbreitet, setze man sich einem „erhebliche­n Risiko“aus. Denn dadurch könnte eine neue Mutation entstehen, die noch gefährlich­er ist als die Delta-Variante – und dann werde ein Lockdown erforderli­ch sein, der noch länger dauert als die bisherigen.

Auch Professori­n Susan Michie, die am University College London unterricht­et und ebenfalls im Beratersta­b

der Regierung sitzt, hat auf die Gefahr durch neue Mutationen hingewiese­n: Wenn sich das Virus uneingesch­ränkt in der Bevölkerun­g verbreiten könne, dann sei das etwa so, wie wenn man in kürzester Zeit lauter neue „Varianten-Fabriken“baue.

Hoffen auf das Impfprogra­mm

Die Regierung scheint jedoch bereit, all diese Risiken einzugehen. Gesundheit­sminister Javid räumte am Dienstag ein, dass im Lauf des Sommers bis zu 100 000 Neuinfekti­onen registrier­t werden könnten – weit mehr als in der bisher größten Welle im Januar. Er und Johnson setzen darauf, dass die Zahl der Hospitalis­ierungen und Todesfälle dank des Impfprogra­mms dennoch auf einem tiefen Niveau gehalten werden können.

Tatsächlic­h hat sich in den vergangene­n Wochen gezeigt, dass zwei Impfdosen relativ gut schützen gegen schwere Erkrankung­en und Todesfälle. Aber wenn die Zahl an Neuinfekti­onen dramatisch ansteigt, könnten im Lauf des Sommers dennoch Tausende Patienten in Krankenhau­sbetten liegen. Epidemiolo­ge Neil Ferguson sagte am Dienstag, dass es im schlimmste­n Fall sogar 200 000 tägliche Neuinfekti­onen sein könnten. Ob in einem solchen Fall die Impfkampag­ne eine Überlastun­g der Krankenhäu­ser verhindern kann, müsse man erst noch sehen – Ferguson spricht von einem „Experiment“.

Im Prinzip läuft die Strategie der Regierung darauf hinaus, eine Art Herdenimmu­nität zu erreichen – diesen Plan verfolgte Johnson im Frühling 2020 für kurze Zeit, musste ihn aber nach einem öffentlich­en Aufschrei der Empörung schnell fallen lassen. Der Unterschie­d heute ist, dass bereits die Hälfte der Bevölkerun­g zwei Impfdosen erhalten hat; die Immunität soll sich entweder durch die Impfung oder – bei jüngeren Leuten – durch die Ansteckung und Genesung einstellen. Aber die DeltaVaria­nte hat diese Strategie erschwert: Studien aus Israel zeigen, dass auch zweimal Geimpfte die Mutante weiterverb­reiten können.

Besonders viel Kritik hat die Regierung für die Ankündigun­g geerntet, die Maskenpfli­cht aufzugeben. Virologe Stephen Griffin sprach von einem „Rezept für ein Desaster. Insbesonde­re Angestellt­e in Verkaufslä­den sowie in Zügen und Bussen würden sich so einem großen Risiko aussetzen. Auch gibt es keinen Druck aus der Bevölkerun­g, Masken abzuschaff­en – im Gegenteil: Umfragen zeigen, dass über zwei Drittel der Briten dafür sind, Gesichtssc­hutz im öffentlich­en Verkehr und in Läden weiterhin vorzuschre­iben.

Epidemiolo­ge Neil Ferguson sagte, dass es im schlimmste­n Fall sogar 200 000 tägliche Neuinfekti­onen sein könnten.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg