Skandal um „Folterknast“in Italien
Rom. Die Gewaltorgie liegt schon über ein Jahr zurück: Während der ersten Welle der Pandemie im April 2020 hatten die Insassen des Gefängnisses von Santa Maria Capua Vetere in der Nähe von Neapel protestiert und die Verteilung von Schutzmasken verlangt, nachdem sich innerhalb der Haftanstalt das Gerücht verbreitet hatte, dass einer der Gefangenen an Covid-19 erkrankt sei. Der an sich harmlose und gewaltfreie Protest hatte am folgenden Tag zu einer brutalen „Strafaktion“seitens der Gefängniswärter geführt: Über 100 Gefangene wurden von Dutzenden Aufsehern während mindestens vier Stunden auf übelste Weise misshandelt und erniedrigt.
Die Behörden versuchten zunächst, den Vorfall unter dem Deckel zu halten – bis die Zeitung „Domani“in der vergangenen Woche das Video einer GefängnisÜberwachungskamera publizierte, das die Übergriffe dokumentierte. Erst jetzt schritt die Justiz ein: 77 Wärter wurden umgehend vom Dienst suspendiert, acht kamen in Untersuchungshaft, 18 befinden sich in Hausarrest. Insgesamt wird gegen 150 Personen ermittelt, unter anderem auch gegen den obersten Chef der Gefängnisse in Kampanien. Insgesamt waren 41 Insassen zum Teil schwer verletzt worden; nach der Gewaltorgie kam es unter den Insassen zu zwei Selbstmorden, 30 Selbstmordversuchen und 196 Selbstverstümmelungen.
„Verrat an der Verfassung“
Die Misshandlungen der Gefangenen haben in Italien zu einem öffentlichen Aufschrei geführt; die parteilose Justizministerin Marta Cartabia sprach von einem „Verrat an der Verfassung“. Die Empörung erfasste freilich nicht alle Parteienvertreter: Lega-Chef und ExInnenminister Matteo Salvini stattete der Strafanstalt einen persönlichen Besuch ab, um den Wärtern seine Solidarität auszudrücken. Auch Giorgia Meloni, Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia, stellte sich demonstrativ hinter das Gefängnispersonal.
Inzwischen dürften Salvini und Meloni ihre Solidaritätsadressen bereuen – denn der Skandal zieht immer weitere Kreise. Hatte die Strafaktion zunächst wie ein einmaliger Vorgang ausgesehen, wird nun immer deutlicher, dass die Anwendung auch von schwerster Gewalt in dem süditalienischen Gefängnis offenbar System hatte. Die Zeitung „Corriere della Sera“berichtete gestern, dass noch weitere Videos existierten, die „noch widerwärtigere Szenen“zeigten. Insgesamt sollen der Staatsanwaltschaft 20 Stunden Videoaufnahmen mit Gewaltszenen vorliegen.
Ein Gefangener hat berichtet, dass intime Leibesvisitationen an der Tagesordnung gewesen seien – und dass er und andere Gefangene dabei Opfer schwerster sexueller Gewalt wurden. Die Folterungen in dem Gefängnis von Santa Maria Capua Vetere haben nun auch die EU-Kommission auf den Plan gerufen. Der Sprecher der Generaldirektion Justiz und Verbraucher der Kommission, Christian Wiegand, erklärte, dass es die Pflicht aller nationalen Behörden sei, die Bürger vor Gewalt zu schützen und ihre Sicherheit zu garantieren. D.S.