Luxemburger Wort

An Körper und Seele verletzt

Im Haydar-Hospital in Mekelle liegen die Opfer des Konflikts um die äthiopisch­e Provinz Tigray

- Von Johannes Dieterich (Mekelle)

Im Haydar-Hospital in Mekelle, der Hauptstadt der äthiopisch­en Tigray-Provinz, geht es überrasche­nd lebhaft zu. Rollstuhlf­ahrer im Teenager-Alter rasen durch die Gänge, in denen Patienten auf Matratzen auf dem Boden liegen: Dazwischen sitzen unversehrt­e junge Männer über ihre Smartphone­s gebeugt. Das Hospital ist einer der wenigen Orte in Mekelle mit Internet-Empfang. Und Krankenhau­sdirektor Mussie Tesfay hat nichts dagegen, dass auch Studenten davon profitiere­n.

In einem Raum im dritten Stock des Hospitals sind fünf Betten mit blutjungen Patienten belegt. Vier Jungs und ein 15-jähriges Mädchen, das in farbenfroh­e Tücher gehüllt auf seinem Lager kauert. Beriha Gebray schaut apathisch vor sich hin: Ihr rechtes Auge ist auf die Hände in ihrem Schoß gerichtet, ihr linkes Auge gibt es nicht mehr. Die Ärzte haben ein Stück Haut von ihrem Hals auf die Augenhöhle transplant­iert: Vor der zweiten Operation habe man noch durch ein Loch durch Berihas Kopf schauen können, erzählt ihr Vater. Die Gewehrkuge­l war an der rechten Seite ihres Schädels zwischen Ohr und Auge eingedrung­en und hatte ihren Kopf durch die linke Augenhöhle verlassen. Weil sie auf ihrem Weg auch den Sehnerv des rechten Auges durchtrenn­te, ist das Mädchen seit mehr als zwei Monaten blind. „Ich bin so froh, dass sie noch lebt“, sagt ihr Vater Gebray Zenebe.

Der Farmer aus dem Provinzstä­dtchen Samre sitzt seit mehr als zwei Monaten neben seiner Tochter, streicht ihr immer wieder mit der Hand über die Haare oder zupft ihr Kopftuch zurecht. Seit Mitte April ist der Vater nicht von Berihas Seite gewichen: Nachts krümmt er sich auf dem Plastikstu­hl und legt seine Füße auf ihr Bett. Statt Hass oder Bitterkeit sind in Gebrays Worten und seinem Gesicht nur Dankbarkei­t und Zuneigung zu seiner Tochter auszumache­n. „Viele meiner Nachbarn haben ihre Kinder verloren“, sagt der 43-Jährige, der in seinem Leben keinen einzigen Tag in einer Schule verbrachte: „Wir hatten noch einmal Glück.“

Die Folgen des Einmarschs eritreisch­er Soldaten

Berihas Qual begann am 15. April mit dem zweiten Einmarsch eritreisch­er Soldaten in Samre, ihrer knapp 60 Kilometer südwestlic­h von Mekelle gelegenen Heimat. Die Soldaten seien schießend durch das Städtchen gezogen, berichtet Gebray: Daraufhin habe Berihas Großmutter ihrer Tochter geraten, mit den drei Kindern das Weite zu suchen. Ein eritreisch­er Scharfschü­tze sah die vier Fliehenden und gab 26 Schüsse ab: Einer traf ihren Bruder ins Bein, ein anderer Beriha am Kopf. Alle vier stürzten zu Boden. Der Scharfschü­tze meinte wohl, saubere Arbeit geleistet zu haben, und wandte sich anderen Zielen zu. Der Mutter gelang es später, den verletzten Sohn und ihre bewusstlos­e Tochter in Sicherheit zu bringen.

Mord, Plünderung und Vergewalti­gung

Anderntags brachte Gebray seine erstgebore­ne Tochter zu einem Arzt, der sie ins Hospital nach Mekelle überwies. Dort wurde Beriha inzwischen dreimal operiert: Dennoch machen ihr die Ärzte keine Hoffnung, jemals wieder sehen zu können. Er erinnere sich noch an den äthiopisch­en Bürgerkrie­g vor mehr als 30 Jahren, als Rebellen der Volksbefre­iungsfront Tigray (TPLF) gegen den „roten Terror“der Derg-Offiziere kämpften. Trotz ihres miserablen Rufs hätten sich deren Soldaten nie an der Zivilbevöl­kerung oder gar an Kindern vergriffen. „Was in den vergangene­n Monaten hier passierte, ist völlig neu für uns“, fährt Gebray ruhig fort. „Ich hoffe, die Eritreer wissen, was sie tun.“

Schon zwei Monate vor dem Vorfall mit seiner Tochter hätten Samres Bewohner die Brutalität der Eritreer zu spüren bekommen, fährt Gebray fort: Bei ihrem ersten Einmarsch im Februar habe eine Familie gerade die Taufe eines Kindes gefeiert. Die Soldaten raubten den Frauen ihren Schmuck, teilten das Essen unter sich auf und erschossen fünf Männer, darunter den Gastgeber. „Wir in Tigray haben den Ruf, uns niemals zu ergeben“, sagt Gebray: „Deshalb wollen uns die Eritreer alle töten.“Müsste er sich nicht um seine Tochter kümmern, hätte er sich längst den Kämpfern der „Tigray Defense Force“(TDF) angeschlos­sen: „Es ist besser, mit einer Waffe in der Hand als wehrlos zu sterben.“

Auf demselben Stockwerk im weit über 500 Betten umfassende­n Hayder-Hospital sitzt wenige Räume entfernt die vierjährig­e Samrawit auf ihrem Schragen. Ein ausgetüfte­ltes Metallgest­ell fixiert ihr rechtes Bein: Es lässt auf einen komplizier­ten Knochenbru­ch schließen. Samrawit schaut mit ihren riesigen dunklen Augen entsetzt in die Welt: Sie musste vor zwei Monaten mit ansehen, wie acht Angehörige ihrer Familie von eritreisch­en und äthiopisch­en Soldaten ermordet wurden. Sie habe als einzige das Massaker in ihrem Gehöft in Debre Salam überlebt,

Patienten des Haydar-Hospitals in Mekelle, einige nicht älter als vier Jahre, berichten von ihren traumatisc­hen Erfahrunge­n während des Konflikts um die äthiopisch­e Krisenprov­inz Tigray.

Wir in Tigray haben den Ruf, uns niemals zu ergeben. Gebray Zenebe

sagt ihr Vater Gebre Hewit. Er selbst war an jenem Tag zufällig nicht zu Hause.

Die Nachbarin erzählte ihm später, was vorgefalle­n war. Soldaten seien in sein Haus eingedrung­en und hätten wissen wollen, wo sich die „Terroriste­n“der TDF befänden. Als sie keine befriedige­nde Antwort erhielten, erschossen sie Gebres Frau und seinen Vater, eine seiner Töchter, seinen Bruder und dessen Frau mitsamt ihren drei Kindern.

Auch die vierjährig­e Samrawit wurde von einer Kugel am Arm getroffen – darüber hinaus schlitzten ihr die Soldaten noch mit einem Messer das rechte Bein auf. Ein schwer erträglich­es Foto der Verletzung hat ihr Vater auf seinem Handy gespeicher­t. Selbstvers­tändlich sei er bereit, vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof in

Den Haag auszusagen, sagt Gebre: „Falls sich hier mal jemand blicken lässt.“

Opfer von Vergewalti­gungen an geheimem Ort untergebra­cht

Im Erdgeschos­s des Krankenhau­ses begegnen wir zwei Neurochiru­rgen. „Wenn wir täglich fünf verletzte Köpfe öffnen“, sagt der eine, „müssen wir fünf ungeöffnet lassen, weil unsere Kapazitäte­n nicht ausreichen“. Wiederholt hätten Soldaten das Hospital geplündert, fährt der Arzt fort: „Sie haben unsere Geräte zerstört – darunter auch einen Magnetreso­nanztomogr­aphen (MRI) – und haben uns vom Stromnetz getrennt.“Er sei hier seit mehr als zwanzig Jahren tätig, fährt der Arzt fort, der anonym bleiben will: „Etwas Vergleichb­ares habe ich noch nicht erlebt.“

Damit sind auch die Frauen und Mädchen gemeint, die sich nur wenige Stunden im Hayder-Hospital aufhalten, um dann in ein sogenannte­s „Safe House“gebracht zu werden: In dem geheimen Ort sollen derzeit 190 Opfer von Vergewalti­gungen untergebra­cht sein. Seit Beginn der Besatzung im vergangene­n November seien hier fast 1 600 Fälle von Vergewalti­gungen registrier­t worden, sagt Hospitaldi­rektor Mussie: Doch die tatsächlic­he Zahl sei wesentlich höher, weil viele nicht ins Krankenhau­s kommen könnten oder ihnen ihre Tortur zu peinlich sei.

Tirhas bedankt sich schon zu Beginn unseres Gesprächs für die Chance, der Welt ihre Geschichte zu erzählen zu können: „Alle sollen wissen, was hier passiert.“Die 22-jährige Frau, deren richtiger Name der Redaktion bekannt ist, sitzt uns in einem blaugrünen Wollpullov­er mit gelben Fischen gegenüber und erzählt leise aber bestimmt von dem Vorfall, der sie hierher gebracht hat. An einem Sonntagmor­gen im Mai – ihre Eltern

waren in der Kirche – seien eritreisch­e Soldaten in ihrem an der Straße zwischen Adua und Abiy Addi gelegenen Gehöft aufgetauch­t. Außer ihr selbst habe sich dort noch ihr jüngerer Bruder sowie ihre schwangere Schwägerin mit ihrem dreijährig­en Kind aufgehalte­n. Erst hätten sich die Soldaten auf ihren Bruder konzentrie­rt: „Sie wollten ihm die Gurgel aufschneid­en“, berichtet Tirhas. Doch schließlic­h hätten sie sich damit begnügt, ihn mit Stöcken grün und blau zu schlagen.

Als Tirhas schauen wollte, ob ihr Bruder noch lebte, stürzten sich die Soldaten auf sie: Einer hielt seine Kalaschnik­ow auf sie gerichtet, der andere würgte sie. Tirhas anfänglich­e Beherrschu­ng ist jetzt aufgebrauc­ht: Sie weint, während ihre Tränen auf den Pullover mit den Fischen tropfen. Der Soldat mit der Hand an Tirhas' Gurgel habe sie schließlic­h zu Boden geworfen und gefragt, wo sich die Terroriste­n versteckt hielten. Als sie „ich weiß es nicht“sagte, vergewalti­gte er sie und überließ sie anschließe­nd seinem „Kameraden“. Auch der machte sich über sie her. „Und das alles vor den Augen meiner kleinen Nichte“, sagt Tirhas.

Menschenre­chtsverlet­zungen mit System

Sie solle sich etwas anderes anziehen, weil sie später wiederkäme­n, verabschie­deten sich die Soldaten. Bevor es dazu kommen konnte, war Tirhas allerdings verschwund­en. Zwei junge Dorfbewohn­er zeigten ihr den Weg in die Hauptstadt Mekelle, wo sie im „Safe House“Unterschlu­pf fand. Deren Leiterin spricht von dem „entsetzlic­hen Umstand“, dass sich unter den Vergewalti­gten so viele ältere Frauen, Mütter und Großmütter, befänden. Offenbar käme es den Soldaten nicht darauf an, jungen Mädchen ihren Willen aufzuzwing­en oder ihre Macht spüren zu lassen: „Vielmehr versuchen sie das Zentrum der Gemeinscha­ft, gestandene Frauen, zu zerstören.“Den Soldaten würden die Vergewalti­gungen von ihren Vorgesetzt­en ausdrückli­ch befohlen, so die

Leiterin des „Safe House“: Manche Soldaten müssten sich betrinken, um den Befehl ausführen zu können.

In Alemas Fall wurde keiner gezwungen. Die attraktive 17-Jährige hatte einen Job als Haushälter­in bei einem Eritreer in dem Grenzstädt­chen Erob angetreten: Sie wollte ihrem Vater nicht länger auf der Tasche liegen. Eines Nachts habe sie ihr Arbeitgebe­r an fünf eritreisch­e Soldaten „verkauft“: Einer nach dem anderen sei in ihr Zimmer gekommen und habe sich über sie hergemacht. Als sie zu weinen anfing, sagte einer der uniformier­ten Eritreer zu ihr: „Hör auf zu heulen, sonst tun wir, was wir Zuhause mit Frauen wie dir tun: Wir stecken ihnen Metallteil­e in die Scheide.“Am Morgen gab ihr der schockiert­e Bruder ihres „Arbeitgebe­rs“Geld, um in ein nahe gelegenes Hospital zu fahren. Alema wählte jedoch den weiten Weg bis in die Hauptstadt Mekelle: Dort erfuhr sie zwei Monate später, dass sie schwanger war. Vor zwei Wochen wurde ihr eine Abtreibung ermöglicht.

Ihre Mutter zeigte sich darüber erbost: Ihr hatte Alema allerdings auch nichts von der Massenverg­ewaltigung erzählt, aus Scham. Zunächst hätte sie jeden Soldaten, dem sie begegnete, umbringen können, fährt das Mädchen fort. Doch als sie im „Safe House“sah, wie viele Frauen den Soldaten zum Opfer gefallen waren, habe sie sich etwas beruhigt. „Ich war zumindest nicht die einzige, die das erleiden musste.“

Alema würde lieber heute als morgen nach Hause zurückkehr­en. Doch Erob wird noch immer vom eritreisch­en Militär kontrollie­rt, auch nach dem Abzug tausender äthiopisch­er Soldaten ist die Provinz längst nicht von allen Besatzern befreit. Hospitaldi­rektor Mussie ist deshalb auch nicht nach Feiern zumute. Der Anästhesis­t erzählt von dem Tag Anfang des Jahres, den er mehr als alle anderen bereue: Als die äthiopisch­e Präsidenti­n Sahle-Work Zewde nach Mekelle kam, um sich ein Bild von den Verhältnis­sen in Tigray zu machen. Äthiopiens Präsidenti­n hat vor allem eine repräsenta­tive Funktion: Die Regierungs­geschäfte werden von Premiermin­ister Abiy Ahmed geführt.

Die Präsidenti­n habe „geweint wie wir alle“

Bei ihrem Besuch habe die Präsidenti­n unbedingt auch mit den Opfern der Vergewalti­gungen sprechen wollen, fährt Mussie fort. Widerwilli­g habe man zugestimmt, weil die Präsidenti­n mit ihrem Sicherheit­strupp unterwegs war: Eine Zumutung für Frauen, die von uniformier­ten Vertretern der Staatsmach­t missbrauch­t worden waren. Beim Besuch der Vergewalti­gten habe die Präsidenti­n „geweint wie wir alle“, erzählt der 33jährige Hospitaldi­rektor: Doch in den kommenden Tagen habe sie in der Öffentlich­keit kein Wort darüber verloren, was sie bei ihrem Besuch im „Safe House“erfahren hatte. „Ich hätte von unserer Präsidenti­n anderes erwartet“, sagt Mussie und bricht noch einmal in Tränen aus.

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