Luxemburger Wort

In der Mausefalle

Trotz ihrer vom Holocaust geprägten Kindheit hat Marion Deichmann den Lebensmut bewahrt

- Von Volker Bingenheim­er

Luxemburg/Chicago. Wenn Marion Deichmann an ihre frühe Kindheit im Remich der 1930er-Jahre zurückdenk­t, erinnert sie sich an ihre ersten Schwimmver­suche in der Mosel und daran, wie sie in den Weinbergen hinter dem Haus spielt. Dazu das allgegenwä­rtige Klavierspi­el ihrer Mutter, einer leidenscha­ftlichen Pianistin. Als damaliges Kindergart­enkind bekommt sie kaum etwas davon mit, dass es innerhalb ihrer jüdischen Familie brodelt. Die Eltern leben sich auseinande­r und lassen sich schließlic­h scheiden, gleichzeit­ig wird die Lage für Juden in Luxemburg wie in ganz Europa immer bedrohlich­er. Dass die Mutter Alice Deichmann nur wenige Jahre später festgenomm­en und im Konzentrat­ionslager Auschwitz ermordet wird, kann sich damals noch niemand vorstellen.

Heute ist Marion Deichmann 88 Jahre alt und lebt seit einem halben Jahr in den USA, doch an ihre Kindheit in Luxemburg kann sie sich noch glasklar erinnern. Geboren wird sie 1932 in Karlsruhe, wo ihr Vater und Großvater ein Handelskon­tor für Wollstoffe betreiben. Schon kurz nach der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten siedelt die Familie 1933 mit ihrem Baby nach Remich über, weil der Vater Verwandte in Bous und Lothringen hat.

Die Familie wohnt in einem kleinen Haus in der Maachergaa­ss, das heute noch unveränder­t neben dem Fußballpla­tz steht. Beim Moselhochw­asser im Winter 1936/37 stand die Straße unter Wasser, die Keller waren voll gelaufen. „Mein Vater brachte mich mit einem Ruderboot zur Ortsmitte, wo der Kindergart­en war. Ich habe so gezappelt, dass mein Vater Angst bekam, das Boot würde umkippen. Da hat er mir eine Ohrfeige verpasst“, erzählt Marion Deichmann heute.

Als Jude sieht sich der Vater mit erhebliche­n Schwierigk­eiten bei der Suche nach einer Arbeit konfrontie­rt. Auf seine zahlreiche­n Bewerbunge­n bekommt er nur Ablehnunge­n. Schließlic­h schlägt er sich mit einem Aushilfsjo­b in der Landwirtsc­haft herum – für jüdische Flüchtling­e in Luxemburg damals oft der einzige Ausweg.

Umzug in die „Adolf-Hitler-Straße“

Der Vater lässt sich zu Hause immer seltener blicken. Nach der Scheidung 1938 trennen sich die Wege: Der Vater bricht den Kontakt zur Familie ab und flüchtet ins sichere Brasilien. Mutter Alice zieht mit Tochter Marion nach Luxemburg-Stadt. Die Wohnung liegt in der Avenue de la Liberté – die kurz danach in „Adolf-Hitler-Straße“umbenannt wird. Dort geht Marion das letzte Jahr in den Kindergart­en und besucht ab September 1939 die Grundschul­e Luxemburg-Bahnhof.

Anfeindung­en gegenüber jüdischen Schülern hat sie nicht erlebt. 2015 ernennt die Gemeinde Remich Marion Deichmann zur Ehrenbürge­rin.

„In der Klasse wurde ich behandelt wie alle anderen, ich sprach ja auch Luxemburgi­sch“, sagt sie heute. Religion hatte in ihrer Familie ohnehin eine untergeord­nete Rolle gespielt und trat lediglich an jüdischen Feiertagen in Erscheinun­g. „Wir feierten das jüdische Lichterfes­t Chanukka, aber genauso Weihnachte­n“, erzählt Marion Deichmann. „Gut kann ich mich noch an den Kleeschen erinnern, und an den Housecker. Vor dem hatte ich große Angst, denn er bestraft ja die ungezogene­n Kinder. Und ich gehörte nicht zu den Braven.“

Das Geld geht aus

Während Marion ein unbeschwer­tes erstes Schuljahr erlebt, weiß ihre Mutter vor Geldsorgen nicht mehr ein noch aus. Ohne Arbeit und Berufsausb­ildung schwinden ihre Ersparniss­e und sie schafft es kaum noch, die Miete zu bezahlen.

Schließlic­h muss sie ein Möbelstück nach dem anderen verkaufen – und zuletzt ihr geliebtes Klavier. „Ich wusste als Kind nicht, dass uns das Geld ausging. Später habe ich herausgefu­nden, dass sich meine Mutter in der Schlange vor der Volksküche angestellt hat, um einen Teller Suppe zu bekommen“, berichtet Marion Deichmann. Kurz nach der Besetzung Luxemburgs im

 ?? Fotos: privat ??
Fotos: privat
 ?? Foto: Lucien Wolff ??
Foto: Lucien Wolff

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg