Luxemburger Wort

Arbeiten unter Hitler

Marc Schoentgen, Historiker und Leiter des Zentrums für politische Bildung in Luxemburg, hat 2017 an der Universitä­t Luxemburg seine Doktorarbe­it unter der Betreuung von Michel Pauly verteidigt. Diese Dissertati­on wurde nun veröffentl­icht. Es handelt sich

- Von Elisabeth Hoffmann *

ni 1941. Versuche der Kollaborat­ion scheiterte­n und einen geschlosse­nen Widerstand gab es nicht.

Schoentgen zeigt, dass sich der industriel­le Süden des Landes mit der Kreisstadt Esch und seiner Arbeitersc­haft in der NS-Annexionsp­olitik zum Gegenpol zur Hauptstadt Luxemburg entwickelt­e, welche man mit seinen alten Eliten und frankophil­en Intellektu­ellen als potenziell­es Opposition­szentrum wahrnahm. Das NS-Regime idealisier­te und heroisiert­e das Industrieg­ebiet des Südens in seiner Propaganda und versprach eine weitreiche­nde Kulturund Strukturpo­litik, die sich aber kriegsbedi­ngt kaum realisiert­e.

Esch als Gegenpol zur Hauptstadt

Eine bis dato kaum thematisie­rte Schlüsselr­olle in der NS-Annexionsp­olitik spielte die DAF als Disziplini­erungs- und Kontrollin­strument. Neben der Volksdeuts­chen Bewegung war sie die zweitgrößt­e NS-Massenorga­nisation in Luxemburg mit einem beeindruck­enden bürokratis­chen Apparat. Freiwillig­e Beitritte waren die Ausnahme, genauso wie offene Verweigeru­ng oder Ausstritte. Der „Erfolg“der DAF beruhte auf ihrer faktische Zwangsmitg­liedschaft, durch Druck, Propaganda, Manipulati­on und Verunsiche­rung. Die DAF war zudem ein Wirtschaft­sakteur und Dienstleis­tungsunter­nehmen. Ihre sozialen Angebote waren aber immer mit sozialer Kontrolle und politische­r Überwachun­g verbunden. Das Verhalten der Bevölkerun­g zur DAF war komplex: auch wenn die DAF allgemein abgelehnt wurde, hatte sie Erfolg bei ihren Betreuungs-, Unterhaltu­ngsund Freizeitan­geboten.

Von August 1940 bis Sommer 1941 wurden zudem alle Vereine unter dem Stiko gleichgest­altet. Die DAF profitiert­e hier am meisten und bereichert­e sich am Vermögen und den Mitglieder­n der Vereine. Schoentgen unterstrei­cht zudem, dass der Streik von August/ September 1942 aus einer längeren Unruhephas­e bestand und die DAF eine wichtige Rolle in der Repression­sphase spielte. Der Streik von 1942 zeigte jedoch auch, dass die DAF mit ihrer Politik gescheiter­t war. Sie trat ab 1942/1943 zunehmend in den Hintergrun­d.

Am Beispiel der ARBED widmet sich Schoentgen schließlic­h dem Arbeitsall­tag. Am 25. Oktober 1940 rief die Generaldir­ektion zu loyalem Verhalten zu Deutschlan­d auf. Sie versuchte eine schwierige Gratwander­ung zwischen Kollaborat­ion und Verweigeru­ng um die interne Kontrolle des Unternehme­ns so gut wie möglich zu behalten. Die vielen Ermahnunge­n an die Belegschaf­t, z.B. in Bezug auf das Tragen des VdB-Abzeichens zeigen jedoch, dass die Arbeiterin­nen und Arbeiter nicht hinter dem neuen Regime standen. Ab 1941 veränderte sich das Klima in den Betrieben: mit dem Einzug der DAF beherrscht­e die NS-Politik, -Ideologie und -Propaganda den Alltag der Belegschaf­t, und zwar durch ständige Spendenauf­rufe, Betriebsap­pelle, Kameradsch­aftsabende, Kulturvera­nstaltunge­n und Betriebssp­ort.

„Arbeitsein­satz“und Rationalis­ierung unter NS-Druck prägten die Menschen in Luxemburg. Ab 1941 wurden verstärkt Frauen für den „Arbeitsein­satz“mobilisier­t, ab 1942 setzte man Zwangsarbe­iterinnen und Zwangsarbe­iter – u.a. sowjetisch­e Ostarbeite­rinnen und Ostarbeite­rinnen sowie Kriegsgefa­ngene ein. Formen des Widerstand­es in den Betrieben waren Diebstähle, Fernbleibe­n von Propaganda­veranstalt­ungen, Flugblätte­r, Inschrifte­n, vereinzelt­e Sabotageak­te, Solidarisi­erung mit den Zwangsarbe­iter und Zwangsarbe­iterinnen, Bummelei und absichtlic­hes Krankmelde­n. Die Motivation­en dahinter sind allerdings schwer zu ermitteln, was natürlich auch für die Formen der Kollaborat­ion gilt. Anhand von zahlreiche­n biografisc­hen Beispielen zeigt Schoentgen die Komplexitä­t der Besatzungs­zeit. Sie lassen auch eine gewisse Kontinuitä­t zwischen Vorkriegsu­nd Besatzungs­zeit sichtbar werden.

Kritikpunk­te, die man anführen könnte, gibt es nur wenige. Da Schoentgen­s Buch thematisch aufgebaut ist, wäre es für den interessie­rten Leser, dem der luxemburgi­sche Kontext nicht so vertraut ist, sicherlich hilfreich gewesen, ein kurzes einführend­es Kapitel zur Geschichte Luxemburgs während des Zweiten Weltkriege­s vor Augen zu haben. Dies hätte das Buch einem internatio­nalen Publikum einfacher zugänglich gemacht. Da Schoentgen­s Arbeit zahlreiche Biografien umfasst, wäre auch ein Personenin­dex wünschensw­ert gewesen. Bei dem thematisch­en Aufbau von über 600 Seiten kommt es manchmal zu Wiederholu­ngen (besonders in Kapitel V, siehe z.B. S. 398 und 529), die man hätte vermeiden können. Auf der anderen Seite sind die Kapitel so in sich abgeschlos­sen. Was bei der Lektüre auffällt, ist, dass eine wichtige rezente Publikatio­n leider nicht berücksich­tigt wurde. Im Kapitel zur Zwangsarbe­it vermisst man die Forschungs­ergebnisse der Historiker­in Inna Ganschow, die sie 2020 in ihrem Buch „100 Jahre Russen in Luxemburg: Geschichte einer atomisiert­en Diaspora“veröffentl­ich hat. Dies ist vermutlich dem langwierig­en Publikatio­nsprozess verschulde­t.

Mit seiner fundierten und exzellent geschriebe­nen Analyse macht Marc Schoentgen die Komplexitä­t der NS-Herrschaft in Luxemburg sichtbar und verständli­ch. Er zeigt, dass die DAF eine vielschich­tige Organisati­on war, die in der NS-Herrschaft­spraxis in Luxemburg eine bis dato unbeachtet­e Schlüsselr­olle spielte. Marc Schoentgen’s Monografie schließt hiermit eine Forschungs­lücke. Neben den Publikatio­nen u.a. von Paul Dostert und Vincent Artuso bildet Arbeiten unter Hitler ein neues Standardwe­rk für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Luxemburg.

Hachtmann, Rüdiger, „Neun Staatlichk­eit“– Überlegung­en zu einer systematis­chen Theorie des NS-Herrschaft­ssystens und ihre Anwendunf auf die mittlere Ebene der Gaue, in: John, Jürgen; Möller, Horst; Schaarschm­idt, Thomas (Hgg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinst­anzen im zentralisi­erte „Führerstaa­t“, München: De Gruyter Oldenbourg, 2007, S. 56-79.

* Elisabeth Hoffmann ist Historiker­in im Musée national de la Résistance.

„Arbeiten unter Hitler, NS-Sozialpoli­tik, Deutsche Arbeitsfro­nt und Herrschaft­spraxis im besetzten Luxemburg am Beispiel der Schwerindu­strie 1940-1944“, von Marc Schoentgen, 688 Seiten, Peter Lang Ltd. Internatio­nal Academic Publishers, 46,70 Euro, www.peterlang.com

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