Englisches Roulette
Am 19. Juli soll es so weit sein: Dann ist „Freedom Day“in England angesagt. An jenem von vielen heiß erwarteten Stichtag soll das Ende aller noch bestehender Corona-Regeln eingeläutet werden. Dann fallen Abstandsregeln und Maskenpflicht ebenso weg wie die Vorschrift zum Homeoffice. Nachtclubs dürfen wieder öffnen, Großveranstaltungen sind ohne Einschränkungen wieder möglich ... Mit anderen Worten: „Back to normal!“Nur: Die Pandemie ist noch längst nicht vorbei.
Wegen der hochansteckenden Delta-Variante gibt es nun rund 54 000 Neuinfektionen pro Tag, auch die Zahl der Klinikeinweisungen nimmt leicht zu. Allerdings verharrt die Zahl der Todesfälle dank des Impfprogramms auf relativ niedrigem Niveau. Und Boris Johnson hofft, dass dies in Zukunft auch so bleiben wird.
Auf der britischen Insel ist die Hälfte der Einwohner doppelt geimpft. Gegen sie hat Delta wenig Chancen. Aber was ist mit der anderen Hälfte, die entweder nur einmal immunisiert oder noch gar nicht geimpft wurde? Hat der Staat nicht die Aufgabe, auch diese Menschen zu schützen? Es handelt sich bei ihnen zwar vornehmlich um Kinder und junge Menschen, bei denen schwere Krankheitsverläufe sehr selten sind. Aber auch sie können an dem noch wenig erforschten chronischen Leiden Long-Covid erkranken, das ihre Zukunftspläne auf unbestimmte Zeit zunichte machen könnte.
Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sich mit mehr Ansteckungen auch mehr Varianten bilden. Varianten, die vielleicht ansteckender sein können oder gegen die der Impfschutz weniger gut wirkt. Solche Mutanten könnten rasch auf das europäische Festland und den Rest der Welt übergreifen. Mit mehr Todesfällen, überlasteten Gesundheitssystemen, der Verhängung neuer Lockdowns und mit tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen ...
Das Ziel des britischen Premiers ist es, die Herdenimmunität zu erreichen. Schon am Anfang der Pandemie hatte der Tory-Populist damit geliebäugelt, bis dass ihn die explodierende Zahl an Infektionen und Todesfällen eines Besseren belehrte und er eine Kehrtwende hinlegte. In den kommenden Monaten nimmt er nun die Durchseuchung der Hälfte der im Landesteil England lebenden Bevölkerung in Kauf. Das ist bestenfalls leichtsinnig, schlimmstenfalls fahrlässig.
Das Motto lautet jetzt: Eigenverantwortung. Das Problem dabei ist, dass die Sicherheit des Einen auch vom vernünftigen und verantwortungsvollen Verhalten des Anderen abhängt. Und dass wahrlich nicht alle verantwortungsvoll sind, haben die Bilder der Fußball-Europameisterschaft dieser Tage eindrucksvoll vor Augen geführt. Dabei ist die Idee, mit dem Virus zu leben, nicht falsch. Es braucht aber Regeln für ein sicheres Zusammenleben – Regeln, die an die sich wandelnden Umstände angepasst werden müssen.
Der britische Premier geht eine gigantische Wette ein. Johnson wird entweder als mutiger Macher oder zynischer Zocker in die Geschichte eingehen. Sein Massenexperiment mit offenem Ausgang wird jedenfalls nicht ohne Folgen bleiben.
Boris Johnson wird entweder als mutiger Macher oder zynischer Zocker in Erinnerung bleiben.
Kontakt: francoise.hanff@wort.lu