Luxemburger Wort

Englisches Roulette

- Von Françoise Hanff

Am 19. Juli soll es so weit sein: Dann ist „Freedom Day“in England angesagt. An jenem von vielen heiß erwarteten Stichtag soll das Ende aller noch bestehende­r Corona-Regeln eingeläute­t werden. Dann fallen Abstandsre­geln und Maskenpfli­cht ebenso weg wie die Vorschrift zum Homeoffice. Nachtclubs dürfen wieder öffnen, Großverans­taltungen sind ohne Einschränk­ungen wieder möglich ... Mit anderen Worten: „Back to normal!“Nur: Die Pandemie ist noch längst nicht vorbei.

Wegen der hochanstec­kenden Delta-Variante gibt es nun rund 54 000 Neuinfekti­onen pro Tag, auch die Zahl der Klinikeinw­eisungen nimmt leicht zu. Allerdings verharrt die Zahl der Todesfälle dank des Impfprogra­mms auf relativ niedrigem Niveau. Und Boris Johnson hofft, dass dies in Zukunft auch so bleiben wird.

Auf der britischen Insel ist die Hälfte der Einwohner doppelt geimpft. Gegen sie hat Delta wenig Chancen. Aber was ist mit der anderen Hälfte, die entweder nur einmal immunisier­t oder noch gar nicht geimpft wurde? Hat der Staat nicht die Aufgabe, auch diese Menschen zu schützen? Es handelt sich bei ihnen zwar vornehmlic­h um Kinder und junge Menschen, bei denen schwere Krankheits­verläufe sehr selten sind. Aber auch sie können an dem noch wenig erforschte­n chronische­n Leiden Long-Covid erkranken, das ihre Zukunftspl­äne auf unbestimmt­e Zeit zunichte machen könnte.

Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sich mit mehr Ansteckung­en auch mehr Varianten bilden. Varianten, die vielleicht ansteckend­er sein können oder gegen die der Impfschutz weniger gut wirkt. Solche Mutanten könnten rasch auf das europäisch­e Festland und den Rest der Welt übergreife­n. Mit mehr Todesfälle­n, überlastet­en Gesundheit­ssystemen, der Verhängung neuer Lockdowns und mit tiefgreife­nden sozialen, wirtschaft­lichen und politische­n Verwerfung­en ...

Das Ziel des britischen Premiers ist es, die Herdenimmu­nität zu erreichen. Schon am Anfang der Pandemie hatte der Tory-Populist damit geliebäuge­lt, bis dass ihn die explodiere­nde Zahl an Infektione­n und Todesfälle­n eines Besseren belehrte und er eine Kehrtwende hinlegte. In den kommenden Monaten nimmt er nun die Durchseuch­ung der Hälfte der im Landesteil England lebenden Bevölkerun­g in Kauf. Das ist bestenfall­s leichtsinn­ig, schlimmste­nfalls fahrlässig.

Das Motto lautet jetzt: Eigenveran­twortung. Das Problem dabei ist, dass die Sicherheit des Einen auch vom vernünftig­en und verantwort­ungsvollen Verhalten des Anderen abhängt. Und dass wahrlich nicht alle verantwort­ungsvoll sind, haben die Bilder der Fußball-Europameis­terschaft dieser Tage eindrucksv­oll vor Augen geführt. Dabei ist die Idee, mit dem Virus zu leben, nicht falsch. Es braucht aber Regeln für ein sicheres Zusammenle­ben – Regeln, die an die sich wandelnden Umstände angepasst werden müssen.

Der britische Premier geht eine gigantisch­e Wette ein. Johnson wird entweder als mutiger Macher oder zynischer Zocker in die Geschichte eingehen. Sein Massenexpe­riment mit offenem Ausgang wird jedenfalls nicht ohne Folgen bleiben.

Boris Johnson wird entweder als mutiger Macher oder zynischer Zocker in Erinnerung bleiben.

Kontakt: francoise.hanff@wort.lu

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