Luxemburger Wort

Aufstieg der Gangs Die rapide wachsende Mitglieder­zahl stellt Neuseeland vor große Schwierigk­eiten

- Von Matthias Stadler (Rotorua)

Rotorua bietet dem unbekümmer­ten Neuseeland-Touristen manche Sehenswürd­igkeit: Die 77 000Einwohn­er-Stadt im Norden der neuseeländ­ischen Nordinsel lockt mit imposanten Geysiren, heißen Thermalque­llen und idyllische­n Seen jährlich Hunderttau­sende Besucher an. Diese heile Welt erhält

Nicht alles, was Gangs machen, sei kriminell, betonen Experten immer wieder. So hätten verschiede­ne Gruppierun­gen nach dem Anschlag auf Muslime in Christchur­ch im März 2019 mit 51 Toten Hilfe angeboten. Doch trotzdem machen sie zumeist durch negative Schlagzeil­en auf sich aufmerksam. Greg Williams, Direktor der Gruppe für organisier­te Kriminalit­ät bei der neuseeländ­ischen Polizei, sieht als größtes Problem den Drogenhand­el. Die Gangs seien die treibende Kraft dahinter, „da damit viel Profit zu machen ist“. Der oberste Gang-Verfolger des Landes sagt, der Verkauf von Methamphet­amin sei der größte Einkommens­zweig für Gangs und alleine wohl 600 Millionen Euro wert. „Dieser umkämpfte Markt hat signifikan­te Gewalt mit sich gebracht.“

Zwar ist die Gesamtzahl an Verbrechen im Covid-Jahr 2020 gesunken, 2019 aber registrier­te die Polizei in manchen Kategorien deutlich mehr Delikte als 2015. So stiegen etwa Fälle von Körperverl­etzungen kontinuier­lich an. 2019 gab es insgesamt 54 500 solcher Delikte, 8 000 mehr als 2015. Außerdem registrier­te die Polizei 7 000 zusätzlich­e Einbrüche. Ob das auf die gestiegene Anzahl von Gang-Mitglieder­n zurückzufü­hren ist, ist unklar, aber eine Verbindung scheint realistisc­h.

Ex-Sträfling hilft Aussteiger­n

Doch weshalb hat Neuseeland, das eigentlich einen friedferti­gen Ruf genießt, vermehrt mit Gang-Problemen zu kämpfen? Wer die Antwort wissen will, findet sie am besten bei Direktbetr­offenen. Eine Viertelstu­nde Autofahrt vom Stadtzentr­um Rotoruas entfernt liegt Billy MacFarlane­s Reich. Der 57-Jährige hat hier eine Art Camp aufgebaut, in dem er Kriminelle (Anm.d.Red.: Nicht alle Teilnehmer sind ehemalige Gang-Mitglieder),

ne Schwester hat mich im letzten Moment gerettet“, erklärt er mit Tränen in den Augen. Der Grund, weshalb er austrat, sei das „ausschließ­lich kriminelle Leben“in der Gang gewesen. Er habe Drogen verkauft – „alles, was ich in die Hände kriegte“–, da erwartet worden sei, dass man Geld beisteuere. Immerhin hätten seine Gang-Kollegen ihm beim Austritt keine Steine in den Weg gelegt. Heute sieht er, wie einfach es die Gangs haben, junge Leute zu rekrutiere­n: „Sie müssen nur zu Teenagern hingehen und ihnen einen Joint anbieten.“Diese würden ihr Glück kaum fassen und schon sei die Tür offen.

A. M. (Name von der Redaktion geändert) war fünf Jahre lang Präsident eines der drei sogenannte­n Chapters der „Black Power“-Gang in Christchur­ch. Mit dem Tattoo einer schwarzen Faust im Gesicht und seinem grimmigen Blick wirkt er wie der Prototyp eines Gangsters. Der 46-Jährige saß wegen schwerer Körperverl­etzung, organisier­ter Kriminalit­ät, Waffenbesi­tzes und anderer Anklagepun­kte vier Jahre hinter Gittern. „Ich habe noch viel mehr auf dem Kerbholz, doch wurde ich vorher nie geschnappt.“Nun will er seinen Kindern und Enkelkinde­rn zuliebe dem Gang-Leben abschwören. „Der Entscheid fiel mir sehr schwer. Denn auch die Gang ist für mich wie eine Familie – und sie wird es immer bleiben.“A. M. erlebte laut eigenen Aussagen viel Gewalt während seiner Kindheit: „Im Alter von acht Jahren war ich quasi auf mich alleine gestellt und wuchs auf der Straße auf.“Als 17Jähriger trat er der Gang bei: „Ich kannte nichts anderes. Und für mich war es zentral, wieder eine Familie zu haben. Zudem gab es mir Sicherheit.“

Australien­s Umgang mit Gangs

Laut dem Gang-Experten Jarrod Gilbert hat die steigende Zahl der Gang-Mitglieder verschiede­ne Ursachen: „Die Gangs wurden vor allem bei jungen, rebellisch­en Personen vor etwa zehn Jahren wieder beliebter. Das hat auch mit den 'Rebels' zu tun, die sich um diese Zeit in Neuseeland etablierte­n.“Die Gruppe war zuvor mehrheitli­ch im Nachbarlan­d Australien zu Hause, wo sie die größte Gang des Landes ist. Australien schiebt ausländisc­he Straftäter seit mehreren Jahren konsequent­er ab. Darunter sind viele neuseeländ­ische Gang-Mitglieder – unter anderem „Rebels“, die in ihrem Heimatland wieder bei Gangs Zuflucht finden. Das Problem wird so quasi nach Neuseeland exportiert.

Programmma­nager Billy MacFarlane nennt weitere Gründe für den Anstieg: Die Armut im Land nehme zu, es fehle vielen Leuten an Bildung. „Zudem sind unsere Gefängniss­e zu Brutstätte­n für Gangs geworden.“In Zahlen ausgedrück­t: Die Polizei schätzt, dass gut 40 Prozent der Gefangenen im Land entweder Gang-Mitglieder sind oder mit ihnen verbandelt sind, vor zehn Jahren war es ein Bruchteil davon.

„Prävention ist am wichtigste­n“Um das Gangproble­m in den Griff zu bekommen, seien verschiede­ne Maßnahmen notwendig, erklärt Jarrod Gilbert: „Es braucht eine starke Polizei. Aber es müssen auch soziale und wirtschaft­liche Maßnahmen getroffen werden.“Polizist Greg Williams sagt, man müsse neben der Durchsetzu­ng von Recht und Ordnung auch auf Bildung und Aufklärung vor Ort setzen. „Die Prävention ist am wichtigste­n.“

Billy MacFarlane hofft derweil, dass sein Programm Nachahmer im ganzen Land findet. Bis es soweit ist, arbeitet er mit seinen Männern weiter in Rotorua – und besucht zudem regelmäßig rund hundert Gefangene, um sie von einem Leben abseits der Kriminalit­ät zu überzeugen. So hilft er jeden Tag mit, Neuseeland­s wachsendes Gang-Problem wenigstens etwas einzudämme­n.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg