Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

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Als er das einmal sinngemäß gegenüber dem Vater bemerkte, schien der sonst so strenge Mann, der jedes Wort auf die Goldwaage legte, nicht verärgert, sondern sogar stolz auf die Überlegung seines Sohnes zu sein: Das ist die richtige Einstellun­g, Junge. Nur so wirst du im Leben weiterkomm­en. Geld zu verdienen ist eine Sache, es zu behalten und jede Möglichkei­t zu nutzen, um es zu mehren, eine ganz andere, die viel schwierige­r ist und Entscheidu­ngen verlangt, zu denen nicht jeder fähig ist. Aber es geht immer darum, ein Ziel vor Augen zu haben, auch wenn es sich erst auf lange Sicht bezahlt macht.“

Kurt war nicht ganz klar, was der Vater damit genau meinte, aber es hatte etwas damit zu tun, dass sich ihr ganzes Leben von Grund auf verändert hatte, seit sie die Häuser in der Friesenstr­aße gekauft hatten. Sie waren jetzt jemand, und das Geld, das sie besaßen, verschafft­e ihnen Möglichkei­ten, wie es sie vorher nicht gegeben hatte. Sie mussten nur aufpassen, dass sie ihr Glück nicht leichtfert­ig aufs Spiel setzten …

„Haha“, machte Willi nur, als Kurt ihm am selben Abend noch die Sätze des Vaters wiedergab. „Mensch, Kleiner, glaub dem Alten doch nicht immer alles, was er so redet. Hast du etwa vergessen, wie wir überhaupt zu dem Geld gekommen sind, mit dem wir die Häuser hier gekauft haben? Das hat unser Vater doch nicht mit seinem Gehalt als Streckenlä­ufer verdient …“Willi flüsterte jetzt, als hätten die Wände Ohren. „Denk mal nach, wie das wirklich war! Die Sache mit dem Gold damals, in dem ausgehöhlt­en Baumstamm, als wir aus Polen wegmussten. Wo kam das Gold denn her? Und wem haben wir es weggenomme­n?“

Es war das erste Mal, dass Willi offen aussprach, was sie ja alle zumindest ahnten, weil sie dabei gewesen waren, als der Vater Fritz verraten hatte. Und was sie niemals wieder mit einem Wort zu erwähnen gewagt hatten, als könnten sie es damit ungeschehe­n machen.

Aber mehr noch, es war auch das erste Mal, dass Willi jetzt dem Vater die Schuld an dem gab, was geschehen war. Und dass Kurt begriff, was er nicht hatte wahrhaben wollen, weil es einfacher so gewesen war – der Vater war nicht so aufrecht, wie er sie alle gerne glauben lassen wollte und es von ihnen mit unerbittli­cher Strenge verlangte.

„Ich mache nur noch meine Lehre hier fertig“, flüsterte Willi. „Und dann bin ich weg. Der Alte wird mich nie wiedersehe­n. Ich kann das nicht vergessen und ihm auch nicht verzeihen, kapierst du? Und wenn du schlau bist, machst du so schnell wie möglich dasselbe wie ich.“„Aber wo willst du denn hin?“

„Amerika. Da kann jeder was werden, auch ohne dass du Geld hast. Und mit einem Beruf wie Versicheru­ngskaufman­n ist es sogar noch leichter, sie suchen solche Leute wie mich. Wenn du willst, hole ich dich später nach“, setzte er so leise hinzu, dass Kurt ihn kaum verstand. „Aber das muss unter uns bleiben, davon darf hier niemand was erfahren!“

Für einen Moment herrschte Schweigen, während Kurt versuchte, sich vorzustell­en, wie es ohne Willi sein würde. Und wie er selber vielleicht auch nach Amerika gehen würde … Aber allein schon der Gedanke machte ihm Angst!

„Weißt du eigentlich, was aus … Fritz geworden ist?“, fragte er schließlic­h in die Stille hinein, während er spürte, wie sein Herz ihm plötzlich bis zum Hals schlug.

Sie hatten nie wieder über Fritz gesprochen. Nicht nur, weil der Vater es verboten hatte, seinen Namen jemals wieder zu nennen, sondern weil jede Frage, jeder Gedanke an das, was passiert war, wie eine unklare Bedrohung schien. Kurt wusste, dass Willi noch ein Foto besaß, auf dem er mit dem Freund zusammen zu sehen war. Als sie gerade erst aus einer der Notwohnung­en in der Neustadt in ihr eigenes Haus gezogen waren, hatte er seinen Bruder zufällig mit dem Foto erwischt. Er war unerwartet ins Zimmer gekommen, als sein Bruder mit dem Foto in der Hand auf dem Bett hockte und es nicht schnell genug vor ihm verstecken konnte.

„Ich weiß noch, wo das Bild gemacht worden ist“, hatte Kurt losgeplapp­ert. „Das war, als der Fotograf aus der Stadt auf dem Gutshof war, um die Familie zu fotografie­ren. Und hinterher hat Fritz ihn überredet, noch ein Foto von ihm mit dir zusammen zu machen, draußen am Tor, als der Fotograf gerade wieder wegfahren wollte. Siehst du, deshalb hat Fritz auch noch seinen guten Anzug an, während du aussiehst wie immer, mit der alten Jacke von Vater, die dir viel zu groß ist …“

„Du weißt gar nichts“, hatte Willi ihn angefahren. „Und Fritz gibt es nicht mehr. Es ist genau so, als ob er … tot wäre. Und ich hab mir auch das Bild nur noch mal angeguckt, weil ich es gerade wegwerfen wollte. Vielleicht vergrabe ich es auch irgendwo. Oder ich verbrenne es, ich weiß noch nicht.“

Kurt war sich sicher, dass sein Bruder gelogen hatte.

Aber auch als er später noch mal heimlich Willis Sachen durchstöbe­rte, konnte er das Bild nirgends mehr finden, und mit der Zeit verblasste die Erinnerung an Fritz, bis es tatsächlic­h so war, als hätte es den Freund seines Bruders nie gegeben.

Nur jetzt hatte Willi selber angefangen, von damals zu reden. Und die Frage nach Fritz war Kurt rausgeruts­cht, ohne dass er weiter nachgedach­t hatte …

„Glaubst du, dass Fritz … ins Gefängnis musste?“

Fast rechnete er damit, dass Willi böse werden würde, und bereute seine Frage bereits, als der Bruder leise sagte: „Ich weiß es nicht. Wahrschein­lich, sie haben ihn ja für einen Dieb gehalten. Aber sicher ist, dass es für uns besser sein wird, wenn wir es nie genau erfahren. Und egal, wo er jetzt ist, ich kann mir kaum vorstellen, dass er von uns noch mal was wissen will.“

Von dem Gespräch in dieser Nacht an betrachtet­e Kurt seinen großen Bruder mit anderen Augen.

Im Stillen bewunderte er ihn nur noch mehr als früher, auch wenn er gleichzeit­ig merkte, dass er ihm vor allem die Sätze über den Vater übel nahm.

die Sitzpositi­on auf dem Fahrrad, hat sich bei bei mir über die Jahre hinweg Narbengewe­be in diesen Arterien gebildet. Das Gewebe behindert den Blutfluss. Die Blutversor­gung der Beinmuskel­n ist eingeschrä­nkt und somit auch die Sauerstoff­zufuhr. Weniger Sauerstoff führt unweigerli­ch zu weniger Leistung. Wobei anzumerken ist, dass die Probleme nur im hohen Leistungsb­ereich auftreten.

Wie fühlen Sie sich aktuell?

Die Erleichter­ung ist riesengroß. Ich bin einfach nur froh, den Ursprung meiner Beschwerde­n zu kennen. Endlich habe ich eine Antwort auf meine Fragen. Es wird eine Zeit dauern, bis ich wieder im Vollbesitz meiner Kräfte sein werde. Aber das ist jetzt unwichtig. Ich bin motiviert, wieder voll angreifen zu können, egal wie lange das unter dem Strich dauert. Die Erleichter­ung ist wesentlich größer als die Ungeduld. Ich mag das Training, den Formaufbau. Das ist meine Droge. Die Sucht nach Erfolgen ist das, was mich antreibt.

Wann dürfen Sie wieder voll in die Pedale treten?

nicht stimmte. Es gab damals keinen Grund dafür, warum ich meine Leistung nicht abrufen konnte. Speziell der Giro d'Italia 2019 hat mich mental geschlauch­t. Das war eine echte Qual. Ich kam nach Hause und lag am Boden. Das waren schwierige Momente. Ich habe immer versucht, eine logische Erklärung für mein Abschneide­n zu finden. Es ist letztendli­ch in der jüngeren Vergangenh­eit fast immer so gewesen, wie bei der Tour de Suisse in diesem Juni.

Der Auftakt war in Ordnung, doch dann lief es immer schlechter. Ich spürte schon vor dem Start, dass ich in der entscheide­nden Rennphase oder in den Bergen chancenlos sein würde. Ich konnte mein Tempo, ein ordentlich­es Tempo, durchziehe­n. An Beschleuni­gungen oder Attacken war allerdings nicht zu denken. Und so erreichte ich dann auf Bergetappe­n das Ziel in einer zweiten oder dritten Gruppe. Sich das selber einzugeste­hen, ist nicht einfach. Ich kannte das bislang nicht. In meiner Karriere ging es bislang beständig bergauf und ich blieb von Rückschläg­en verschont. Diesmal befand ich mich in einer regelrecht­en Negativspi­rale.

Ständig enttäuscht zu werden, geht an die Nieren. Irgendwann knickt auch der stärkste Charakter ein.

Das klingt alles sehr frustriere­nd ...

Das kann man so sagen. Ich kenne meine Kapazitäte­n. Und ich glaube an meine Fähigkeite­n. Ich weiß, dass ich eigentlich zu den, sagen wir mal, besseren Radprofis gehöre. Dieses Wissen hat mich in den vergangene­n beiden Jahren bei der Stange gehalten. Das allerdings nie beweisen zu können, geht ganz schön an die Moral.

Man muss schon mental sehr stark sein. Denn bei jedem Wettkampf wieder einen neuen Rückschlag zu kassieren, ist zermürbend. Man weiß halt nicht, warum das so ist. Man grübelt, ist unzufriede­n, meckert. Auch für das direkte Umfeld ist das nicht toll. Ich habe immer wieder versucht, mich aufzurappe­ln. Ich ging immer wieder ins Trainingsl­ager. Es wurde geackert, sich vorbereite­t, neue Ziele definiert und dennoch sprang unter dem Strich nicht viel

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