Wachhunde in Gefahr
Man muss nicht nach Mexiko reisen, um Zeuge von brutalen Attacken auf Justiz und Medien zu werden. Nach dem Attentat auf den niederländischen Reporter Peter R. de Vries scheint sich zu bestätigen, dass skrupellose Gangster offenbar gezielt Jagd auf die Wachhunde der Demokratie machen – und das mitten in der EU. De Vries wurde in Amsterdam auf offener Straße niedergeschossen, der 64Jährige schwebte gestern noch immer in Lebensgefahr. Erinnerungen an die tödlichen Anschläge auf den Slowaken Jan Kuciak, die Maltesin Daphne Caruana Galizia oder „Charlie Hebdo“werden wach.
Die beiden mutmaßlichen Täter, die mittlerweile festgenommen wurden, werden dem Milieu der organisierten Kriminalität zugerechnet. De Vries hat jahrelang auf diesem gefährlichen Terrain recherchiert, er gilt als Top-Kriminalreporter des Landes. In seiner Heimat war seine Arbeitsweise jedoch nicht unumstritten. Der Nordholländer trat in mehreren Rollen in Erscheinung: als Aufdecker, TV-Moderator, Kurzzeit-Politiker, Berater von Fußballprofis oder Fürsprecher von Opferfamilien. Zuletzt diente er sich dem Kronzeugen in einem großen Strafprozess gegen eine Drogenbande als Vertrauensperson an. Alles weist darauf hin, dass der Anschlag auf de Vries mit dem Gerichtsverfahren zu tun hat – denn zuvor waren auch der Bruder und der Anwalt des Kronzeugen ermordet worden.
Als Außenstehender ist man fassungslos, mit welch drastischen Mitteln Kriminelle den niederländischen Strafverfolgern auf der Nase herumtanzen. Liest man die Chronologie der Gewaltvorfälle in den vergangenen Jahren, fühlt man sich unweigerlich an die Serien „Breaking Bad“und „Narcos“erinnert. Polizisten berichten, dass Bedrohungen gegen Journalisten und Politiker in den Niederlanden inzwischen an der Tagesordnung stünden. Ein beschämender Befund für den Regierungschef und liberalen Verbündeten von Xavier Bettel, Mark Rutte.
Hinter all den Entwicklungen steht die mächtige Drogenmafia. Begünstigt durch den Hafen Rotterdam und die ausgezeichnete Verkehrsinfrastruktur hat der Drogenhandel im größten Benelux-Staat mittlerweile Ausmaße angenommen, die die Kapazitäten der kaputtgesparten nationalen Behörden weit übersteigen. Ein Teil der kriminellen Aktivitäten in den Niederlanden schwappt auch nach Luxemburg hinüber: Drogenhändler nutzen das Großherzogtum als Durchlaufstation nach Frankreich.
Europa sollte der Mordversuch an Peter de Vries als Weckruf dienen. Der Aufbau eines eigenständigen europäischen Kriminalamts erscheint dringender denn je. Es darf nicht sein, dass Verbrecher länderübergreifend ihrem schmutzigen Business nachgehen, während Fahnder an nationale Grenzen stoßen. Der Anschlag von Amsterdam zeigt zudem, wie sehr die freie Presse und der Rechtsstaat auch in Ländern, die als liberale Demokratien gelten, unter Druck geraten sind. Es reicht eben nicht, in Sonntagsreden die Gleichschaltung der Medien in China, Russland oder der Türkei zu beklagen, während kritische Journalisten mitten in Europa heftigen Repressalien ausgesetzt sind – oder, wie im Fall de Vries, sogar um ihr Leben fürchten müssen.
In den Niederlanden hat der Rechtsstaat versagt.
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