Luxemburger Wort

Hohe Erwartunge­n, wenig Vertrauen

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj wird heute in Berlin wohl eine Entschädig­ung für das Pipelinepr­ojekt Nord Stream 2 fordern

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Für Wolodymyr Selenskyj ist es kein Höflichkei­tsbesuch. „Zum Glück spürt Europa bisher nicht die Bedrohunge­n, die der Bau von Nord Stream 2 mit sich bringt“, sagte der ukrainisch­e Staatschef am vergangene­n Mittwoch auf einer Pressekonf­erenz in Vilnius zu seinem Termin mit Angela Merkel in Berlin. „Wenn Sie sich in Sicherheit fühlen, denken Sie an die Wirtschaft. Wenn bei Ihnen Krieg herrscht, denken Sie vor allem an Menschenle­ben.“

Morgen wird Selenskyj in der deutschen Hauptstadt erwartet, zu einem Besuch, bei dem die gastgebend­e Seite die Politik scheinbar eher an den Rand schieben möchte. Um zwölf Uhr empfängt Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier seinen ukrainisch­en Kollegen, die Kanzlerin erwartet Selenskyj erst um 19 Uhr – zum Abendessen. Aber der Ukrainer wird die Tischgespr­äche kaum im Plauderton führen.

Hauptdisku­ssionspunk­t dürfte die kurz vor der Fertigstel­lung stehende russisch-deutsche Ostseepipe­line

sein. Merkel bezeichnet sie gern als „rein wirtschaft­liches Projekt“, während man sie in der Ukraine als Sicherheit­srisiko betrachtet: Die Russen machen kein Hehl daraus, dass sie Nord Stream 2 bauen, um künftig kein Gas mehr durch das ukrainisch­e Rohrleitun­gssystem nach Europa pumpen zu müssen.

Angst vor russischen Angriffen

Kiew rechnet mit einem finanziell­en Ausfall von drei Milliarden Dollar Transitgeb­ühren. Aber vor allem fürchtet es neue militärisc­he Angriffe Russlands, denen es bisher auch durch einen Transports­topp für das russische Gas Richtung Europa hätte begegnen können. „Alle dürften sich ruhiger fühlen, wenn Nord Stream 2 erst gar nicht in Betrieb genommen wird“, sagte Außenminis­ter Dmytro Kuleba unlängst während einer Tagung in Kiew.

Doch nicht allein Kuleba hegt nur noch schwache Hoffnungen auf ein Stopp für Nord Stream 2 im letzten Moment. Dabei glauben viele ukrainisch­e Beobachter, die Deutschen hätten wegen des umstritten­en Projekts durchaus ein schlechtes Gewissen, der Blogger Oles Donij bezeichnet die Einladung an Selenskyj nach Berlin als „Geste der Entschuldi­gung.“Und das politische Kiew diskutiert, welche Forderunge­n der Staatschef in der deutschen Hauptstadt stellen sollte, um die Schäden und Gefahren der neuen Ostseepipe­line für die Ukraine zu kompensier­en.

„Selenskyj wird Merkel bitten, einer Änderung des Minsker Verhandlun­gsformats zuzustimme­n“, sagt der Politologe Wadim Karassjew und verweist gegenüber dem „Luxemburge­r Wort“auf den klemmenden Friedenspr­ozess im Donbass-Konflikt. „Außerdem eine Garantie, dass auch weiter russisches Gas durch die Ukraine gepumpt wird, vielleicht auch die Garantie, dass der 2024 auslaufend­e Transportv­ertrag mit Gasprom um weitere fünf Jahre verlängert wird.“

Die Ukrainer wünschen sich Berliner Sicherheit­en. „Wie kann Deutschlan­d juristisch garantiere­n“, fragt Michail Podoljak, Berater des ukrainisch­en Präsidialb­üros, gegenüber dem Portal „Fokus“, „dass unsere Sicherheit nicht durch die deutsche Hilfe für Russland bei der Realisieru­ng von Nord Stream 2 leidet?“

Man erwartet in Kiew ein deutsches Investitio­nsprogramm, das laut dem Nachrichte­nmagazin „Der Spiegel“in Deutschlan­d schon diskutiert wird und unter anderem eine Generalübe­rholung der zum Teil maroden ukrainisch­en Pipelines sowie gemeinsame Projekte zur Wasserstof­fproduktio­n vorsehen soll. Aber man hofft außerdem auf deutsche Waffenlief­erungen, auf mehr deutsche Unterstütz­ung für die ukrainisch­en Bemühungen zum NATOBeitri­tt. Und man wünscht sich eine Teilnahme hochrangig­er Politiker Deutschlan­ds an den Veranstalt­ungen der Krim-Plattform – einer Initiative, mit der Selenskyj die Rückgabe der von Russland annektiert­en Schwarzmee­rhalbinsel wieder auf die internatio­nale Tagesordnu­ng bringen möchte.

Hoffen auf Bidens Einfluss

Aber kaum jemand in der Ukraine traut den Deutschen noch ohne Einschränk­ungen. Wie in anderen osteuropäi­schen Ländern ist man auch in Kiew wenig begeistert vom gemeinsame­n, wenn auch vorerst gescheiter­ten, Vorstoß Merkels und Emmanuel Macrons, wieder EU-Gipfel mit Wladimir Putin zu veranstalt­en. Deutschlan­d sei bereit, die faktische Besetzung ukrainisch­er Gebiete zu ignorieren, um sein Verhältnis mit Russland komfortabl­er zu gestalten, schimpft Sergej Garmasch, ukrainisch­er Unterhändl­er in der Donbass-Kontaktgru­ppe.

Und viele Kiewer Medien verweisen jetzt darauf, dass nicht nur Merkel nach ihrem Termin mit Selenskyj zu Joe Biden nach Washington reisen wird, sondern auch der ukrainisch­e Staatschef. Wohl auch in der Hoffnung, dass Merkel nicht das letzte Wort zum Thema Ukraine haben wird.

Kaum jemand in der Ukraine traut den Deutschen noch ohne Einschränk­ungen.

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