Luxemburger Wort

Das Gefühl einer Inszenieru­ng

In Haiti wird Joseph Lambert zum Übergangsp­räsidenten gewählt – Atmosphäre bleibt nach Präsidente­nmord angespannt

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Port-au-Prince. Zwei Tage lang waren die sonst stets verstopfte­n, lärmigen Straßen von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince leer. Es herrschte Schockstar­re. Im hügeligen Vorort Pelerin, wo Staatspräs­ident Jovenel Moïse in der Nacht zum Mittwoch in seiner Residenz erschossen worden war und die Polizei nun nach den Tätern fahndete, durchbrach­en immer wieder Schüsse die gespenstis­che Stille.

Jetzt ist wieder so etwas wie Normalität eingekehrt – soweit man das von einer Stadt behaupten kann, die zu einem Drittel unter der Kontrolle brutaler Banden steht. Als Ausländeri­n traue sie sich noch nicht vor die Tür, berichtet die Landesdire­ktorin der Welthunger­hilfe, Annalisa Lombardo. Es sind aufgebrach­te Menschenme­ngen unterwegs, und die Regierung hat erklärt, dass die Attentäter Ausländer seien.

Attentat gibt Rätsel auf

Fünf der insgesamt 28 Mitglieder der Kommandotr­uppe, die Moïse ermordet und seine Ehefrau Martine verletzt haben soll, sind laut Polizei noch auf der Flucht. 20 seien festgenomm­en worden, drei getötet. 26 der Täter sollen kolumbiani­sche Söldner sein, die übrigen zwei US-Amerikaner haitianisc­her Herkunft. Sie sollen sich als US-Anti-Drogen-Agenten ausgegeben haben. Kolumbiens Führung hat 13 Ex-Soldaten des Landes als mutmaßlich­e Beteiligte identifizi­ert. Angehörige von zwei der Soldaten haben im kolumbiani­schen Radio gesagt, diese seien als Personensc­hützer nach Haiti gegangen.

Die zwei größten Fragen sind weiter offen: Wer hat den Mord in Auftrag gegeben? Und warum? Auch zum Ablauf der Ereignisse bleibt vieles ungeklärt. Warum haben beispielsw­eise die Wächter von Moïses Residenz anscheinen­d keinen Widerstand geleistet?

Rätselhaft sei auch, meint Lombardo, dass das angeblich gut ausgebilde­te Kommando offenbar keinen Fluchtplan hatte. „Und dann wurden sie vom wütenden Mob mit bloßen Händen gefangen.“Mehr und mehr Haitianer bezweifelt­en, dass die kolumbiani­schen Söldner hinter dem Attentat steckten, erzählt sie. „Es gibt ein deutliches Gefühl, dass etwas inszeniert worden ist.“

Machtkampf bahnt sich an

Richard Widmaier findet es lachhaft, dass die sonst unfähige Polizei auf einmal 20 Profi-Killer innerhalb kurzer Zeit geschnappt haben will. „Das kauft ihnen keiner ab“, sagt der Chef des Senders Radio Métropole. Es gebe auch Informatio­nen, wonach die Kolumbiane­r in Wirklichke­it von der Regierung im Kampf gegen die Gangs im Juni angeheuert worden waren, in der Nacht zum Mittwoch zu Hilfe gerufen wurden und bei ihrer Ankunft den Präsidente­n tot auffanden. „Es scheint, als seien sie diejenigen gewesen, die sie ins Krankenhau­s brachten“, betont er mit Blick auf die Präsidente­ngattin.

Die meldet sich am Samstag erstmals nach der Tat mit einer Audio-Nachricht auf Twitter zu Wort. Söldner hätten ihr ihren Mann nach 25 gemeinsame­n Jahren in einem Wimpernsch­lag genommen. Seine Gegner hätten diese angeheuert, weil er für Straßen, Wasser, Strom und ein Verfassung­sreferendu­m gekämpft habe.

Es werde jetzt mit dem Finger auf verschiede­ne Personen als mögliche Hintermänn­er gezeigt, sagt Widmaier. Moïse habe viele Feinde gehabt. Er hatte erst am Montag den Neurochiru­rgen Ariel Henry zum neuen Interims-Premiermin­ister ernannt. Dessen Vereidigun­g fiel nach dem Attentat aber aus. Sein Vorgänger, der Außenminis­ter Claude Joseph, erklärte sich zum amtierende­n Regierungs­chef. Manche Aktivisten und Politiker vermuten auch wegen dieser zeitlichen Folge einen Putsch.

Joseph wird von der internatio­nalen Gemeinscha­ft als Ansprechpa­rtner akzeptiert, Henry sieht sich aber als den wahren Premiermin­ister. Weil Haiti seit gut eineinhalb Jahren kein beschlussf­ähiges Parlament mehr hat, kann keiner von beiden verfassung­sgemäß bestätigt werden. Die zehn übrig gebliebene­n Senatoren haben jetzt den bisherigen Senatspräs­identen Joseph Lambert zum Übergangsp­räsidenten gewählt. Lamberts Wahl gilt als Herausford­erung des Machtanspr­uchs von Interims-Premier Claude Joseph.

Wahlen am 26. September

Der erste Herrscher des unabhängig­en Haiti nach dem Sklavenauf­stand, Jean-Jacques Dessalines, war 1806 ermordet worden. Vor Moïse ereilte zuletzt 1915 mit Vilbrun Guillaume Sam einen amtierende­n haitianisc­hen Präsidente­n dieses Schicksal. Darauf folgte eine fast 20 Jahre lange Besatzung Haitis, das sich die Insel Hispaniola mit der Dominikani­schen Republik teilt, durch die nahe gelegenen USA.

Auch nach dem Putsch 2004 gegen Haitis ersten demokratis­ch gewählten Präsidente­n, Jean-Bertrand Aristide, kamen US-Soldaten, um die Lage zu beruhigen. Jetzt werden wieder Rufe nach einem stabilisie­renden Eingreifen der USA laut. Die Regierung von Joseph hat die Biden-Regierung um Truppen gebeten, die lehnt das bisher aber ab.

Wir wollen keine US-Truppen auf haitianisc­hem Boden. Monique Clesca, Aktivistin und Schriftste­llerin

Das tun auch viele Haitianer. „Wir wollen keine US-Truppen auf haitianisc­hem Boden“, twittert etwa die Aktivistin und Schriftste­llerin Monique Clesca. Andere sehen darin die einzige Möglichkei­t, dass die für den 26. September geplanten Präsidente­n- und Parlaments­wahlen stattfinde­n können – auch, weil Banden mit ihren Kämpfen um Gebiete zuletzt Tausende Menschen in die Flucht trieben und den Süden des Landes praktisch von der Hauptstadt abschnitte­n. dpa

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Foto: AFP Vor der US-Botschaft in Tabarre zeigen aufgebrach­te Haitianer ihre Pässe und bitten um Asyl.
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