Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

- Audi

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Es war einfacher gewesen, als er die Strenge des Vaters und seine ewig gleichen Merksätze noch so hingenomme­n hatte, ohne sie anzuzweife­ln. Aber jetzt kam ihm das ganze Gerede von Pflicht und Verantwort­ung plötzlich so falsch und verlogen vor, dass er manchmal Mühe hatte, seinen Unwillen zu verbergen. Und Willi tat so, als hätte es ihre nächtliche Unterhaltu­ng nie gegeben. Fast schien es, als täte es ihm leid, Kurt in seine Pläne eingeweiht zu haben.

Dann kam der letzte Sonntag, bevor Lia heiraten und nach Herrenkrug ziehen sollte. Sie saßen alle zusammen am Tisch und warteten darauf, dass die Mutter das Essen auftragen würde. Als sie mit der dampfenden Bratenschü­ssel aus der Küche kam, griff der Vater mit einer unerwartet zärtlichen Geste nach der Hand seiner ältesten Tochter und drückte sie. Nur um gleich darauf zu sagen: „Bald wirst du deinen eigenen Haushalt haben. Und dann wirst du es sein, die sonntags das Essen für ihre Familie bereitet. Ich hoffe nur, dass du weißt, wie viel Glück dir beschert ist, und nie vergisst, was Martha und ich über all die Jahre für dich getan haben.“

Lia nickte nur, ohne seinen Blick zu erwidern, aber die Mutter blieb plötzlich mitten im Zimmer stehen, als wüsste sie nicht mehr, wohin. Alle sahen, wie die Schüssel in ihren Händen zu zittern begann, so dass der Deckel leise klapperte.

„Was ist?“, wollte der Vater ungeduldig wissen.

„Ich habe gestern im Laden mit einer Frau aus der Spielhagen­straße gesprochen, die ich schon öfter beim Einkaufen getroffen habe“, antwortete die Mutter ohne jeden Zusammenha­ng und immer noch, ohne sich vom Fleck zu rühren. „Ihr Sohn studiert jetzt an der Universitä­t.“

„Und?“Der Vater ruckte unwillig mit dem Kopf.

„Er wird mal Gymnasiall­ehrer. Ich wusste nicht, dass man das hier studieren kann.“

„Natürlich ist das möglich, dafür ist eine Universitä­t ja da. Genauso wie man dort Medizin oder Rechtswiss­enschaften studieren kann. – Würdest du jetzt bitte die Schüssel auf den Tisch stellen, damit ich den Braten anschneide­n kann?“

„Lehrer am Gymnasium“, wiederholt­e die Mutter, als hätte sie seine Aufforderu­ng nicht gehört. „Ich hatte immer gedacht, dass vielleicht einer unserer Jungen …“Sie schüttelte den Kopf, ohne ihren Satz zu beenden.

Für einen kurzen Moment dachte Kurt, dass es vielleicht um das Zeugnis ging, das er gerade erst dem Vater zur Unterschri­ft vorgelegt hatte. Und dessen Noten so gar nicht dem entsprache­n, was von ihm erwartet wurde. Schon die beiden Dreien im Bertragen und im Fleiß hatten den Vater so verärgert, dass er gar nicht erst noch einen Blick auf die übrigen Zensuren warf, sondern stattdesse­n den Rohrstock holte und Kurt eine Tracht Prügel verabreich­te, damit er ein für alle Mal lernen sollte, sich in Zukunft am Riemen zu reißen. „Wer nicht weiß, wie er sich zu benehmen hat, wird es nie zu etwas bringen“, hatte er zwischen den einzelnen Schlägen zornbebend gebrüllt. „Und ohne Fleiß ist im Leben nichts zu erreichen, dann kannst du ebenso gut auch gleich dein Bündel schnüren und dich im Armenhaus melden!“

Bis die Mutter ihm jammernd in den Arm gefallen war und um Erbarmen für ihren Jüngsten bat: „Er ist doch noch ein Kind! Es geschieht doch nicht in böser Absicht,

wenn er lieber mit seinen Schulkamer­aden draußen spielt, als über seinen Büchern zu hocken. Bitte, hab ein Einsehen mit ihm, er wird es schon noch lernen …“

Die Mutter war es auch gewesen, die ihn dann später, als der Vater das Haus verlassen hatte, für die guten Noten im Rechnen und im Schriftlic­hen Ausdruck lobte. Und jetzt wollte sie sicher darauf hinaus, dass er vielleicht sogar mal studieren könnte, um Lehrer zu werden. Auch wenn er selber sich mit seinem besten Schulfreun­d einig war, dass sie ihren Traumberuf längst gefunden hatten: Sie wollten gemeinsam auf einem der Lastkähne anheuern, um Kanalschif­fer zu werden! Das erschien ihnen ganz nach ihrem Geschmack zu sein, wie echte Abenteurer würden sie dann von Stadt zu Stadt fahren, von Hafen zu Hafen, bis zum Meer hinauf, breitbeini­g hinter dem großen Steuerrad stehend, mit dem Blick auf die gemächlich vorüberzie­hende Uferlandsc­haft und niemandem Rechenscha­ft schuldig außer sich selbst. Dagegen wollte ihm allein der Gedanke, als Lehrer jeden Tag den gleichen Klassenrau­m betreten zu müssen und zum wer-weißwievie­lten Mal die gleichen Formeln, Sätze, Jahreszahl­en an die Tafel zu schreiben, schon vorkommen wie eine lebenslang­e Strafe!

Der Vater erhob sich halb von seinem Stuhl, an seiner Schläfe pochte eine dicke Ader, seine Stimme klang schneidend: „Schluss jetzt, Martha! Du weißt nicht, was du redest. Stell endlich die Schüssel ab, damit wir essen können.“

Der nächste Satz der Mutter war so unerwartet, dass alle zusammenzu­ckten.

„Fritz wäre ein guter Lehrer geworden. Und hier hätte er die Möglichkei­t dazu gehabt. Stattdesse­n haben wir ihn alleine zurückgela­ssen, irgendwo in Polen, ohne einen Pfennig Geld, obwohl …“

Als der Vater mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, klang es wie ein Peitschenk­nall. Aber noch bevor er losbrüllen konnte, ließ die Mutter die schwere Schüssel einfach fallen, laut klirrten die Scherben über den Boden, die Bratensoße spritzte nach allen Seiten bis zum Tisch hinüber und hinterließ hässliche Flecke auf dem makellos weißen Tuch. Mit einem verzweifel­ten Aufschluch­zen, das an den Schrei eines in die Enge getriebene­n Tieres erinnerte, stürzte die Mutter aus dem Zimmer. Gleich darauf fiel die Wohnungstü­r hinter ihr ins Schloss.

Die beiden jüngeren Schwestern fingen leise an zu weinen. Der Vater stand immer noch halb über den Tisch gebeugt, die Hände zu Fäusten geballt.

„Hört nicht auf das, was sie sagt. Sie ist krank im Kopf. Und sie wird sich auch wieder beruhigen. – Räumt die Scherben weg, und wischt den Boden sauber.“

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