Zeichen des Lichts
Die Ampel wird von SPD, Grünen und FDP freigeschaltet
Um zwei ist es raus. Und von dort, wo sozialdemokratische Heroen ihren ewigen Aufenthalt nehmen, grüßt – Willy Brandt. „Mehr Fortschritt wagen“prangt, hellblau auf weiß, über der Bühne. Bescheidenheit klingt anders.
Wenn es in Deutschland einen Satz gibt aus einer Kanzler-Rede, der bis heute das Gefühl von Aufbruch erzeugt, von geöffneten Fenstern und frischer Luft: Dann ist er vor fast exakt 52 Jahren gesagt worden, in Bonn im Bundestag, in einem ganz anderen Deutschland. Es ging um Demokratie in dem Satz – und er war, in jedem Sinn des Wortes, unerhört. Und so neu, wie die Koalition, die der Kanzler anführte, der den Satz sagte. Mit Willy Brandt begann die sozialliberale Ära der deutschen Politik.
Jetzt, ein gutes halbes Jahrhundert später, tritt wieder ein noch nie da gewesenes Bündnis an. Die Ampel. Wieder stellt die SPD nach langen CDU-Regierungsjahren den Kanzler, wieder ist die FDP dabei – und dazu die Grünen. Mit beiden haben die Sozialdemokraten schon regiert – aber zu dritt: Das gab es in Deutschland noch nie.
Und der Kanzler, der vierte der SPD, der dritte nach Willy Brandt, schafft es, dass diese Koalition den ersten zitiert. Als Titel des Koalitionsvertrags. Nicht, dass das Bild vom Wagnis falsch wäre. Politisch ist es eines, definitiv. Aber dass Grüne und FDP sich unter diesem so klaren Bezug versammeln: Das – soll etwas heißen.
Andererseits: Später wird Christian Lindner sagen, die Ampel sei „eine Regierung der Mitte“. Es ist der große Auftritt der führenden Koalitionäre – und man wartet darauf, dass die SPD-Co-Chefin Saskia Esken hörbar Luft einzieht. In der Mitte sieht sie, die erklärte Partei-Linke, die SPD ganz sicher so wenig wie einst Brandt.
Aber Esken atmet ruhig weiter, und auch sonst gibt es an diesem Nachmittag nicht die allerkleinste Reiberei. Gekracht und geknallt hat es vorher, während der unter Ausschluss aller Öffentlichkeit geführten Verhandlungen; nicht Scholz, nicht Lindner, auch nicht die Grünen Robert Habeck und Annalena Baerbock wollen das leugnen. „Intensiv, mitunter leidenschaftlich“ist Scholzens Umschreibung, „manchmal ganz schön anstrengend“Habecks Version. Und Lindner nennt die Gespräche wie Scholz „intensiv“, dazu „außergewöhnlich diskret“– und schiebt hinterher, man dürfe sie sich vorstellen als „genauso kontrovers, wie sie diskret waren“.
Nun aber gibt es – in das novembertypische Berliner Nassgrau hinein und trotz der großen Pandemie-Krise – Licht-Zeichen. Zeichen des Lichts. Zu neunt streben die führenden Ampler in breiter Front der einstigen Lagerhalle im Westhafen zu, die sie für ihren großen Auftritt gewählt haben, und reihen sich dann auf der Bühne auf. Dass der Einzug zugleich ein bisschen feierlich und ein bisschen albern wirkt: Das liegt an den
Masken, die alle tragen müssen. In Deutschland regiert in Wirklichkeit ja weder die alte Regierung von Angela Merkel noch die künftige von Olaf Scholz – sondern das sich wie niemals zuvor ausbreitende Sars-CoV-2-Virus.
Eine Art späte Rache
Der Pandemie gelten denn auch Scholzens erste Worte. Er liest vom Blatt „Die Lage ist ernst“, aber „die künftige Bundesregierung hat gemeinsam mit den Ländern entschiedene Schritte veranlasst“– und man kriegt eine Vorstellung, wie das wohl werden könnte mit dem Bundeskanzler Scholz, und dass man hier das Wagnis mit ziemlicher Sicherheit nicht finden wird. Scholz – klingt merkelig.
Die baldige Altkanzlerin allerdings kriegt später von ihrem ja noch irgendwie Vizekanzler ein paar verbale Ohrfeigen ab – die nicht gleich als solche zu erkennen sind. Dass es der Ampel „nicht um eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners – sondern der großen Wirkung“gehe: Das ist eine Art späte Rache.
Später sagt Lindner, dass „Olaf Scholz ein starker Bundeskanzler werden“werde. Das ist ein bisschen arg dick, man kann es als Einschmeichelei verstehen oder als noch Schlimmeres. Immerhin hat Lindner sein persönliches Ziel erreicht: Er wird Finanzminister – und Habeck nicht. Das ganze Regierungsviertel redet davon – obwohl die Personalien eigentlich noch geheim sind.
Ein paar scheinen dennoch sicher. Habeck wird wohl ein Ressort für Wirtschaft und Klimaschutz leiten – und Baerbock das Auswärtige Amt. Aber wirklich fest steht nur der Koalitionsvertrag. 178 Seiten, die – grob subsummiert – mehr Klimaschutz, mehr Digitalisierung und mehr soziale Gerechtigkeit verheißen. Drüber steht der Satz mit dem Wagen. Bei Willy Brandt hieß das: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“In Brandts drittem Regierungsjahr, 1972, warnte der Club of Rome zum ersten Mal vor den „Grenzen des Wachstums“. Jetzt, 2021, verspricht Habeck, die Ampel werde für die „Vereinbarkeit von Wohlstand und Klimaschutz“sorgen. Dafür ist Wagnis glatt untertrieben.