Im Visier Russlands steht jetzt Europa
Was der Streit um die Nordseepipeline über die Ambitionen des Kreml aussagt – eine Analyse
Lange hat man sich in Westeuropa im der Sicherheit gewähnt, nicht Ziel Russlands zu werden. Die aktuellen Vorkommnisse an der Grenze zwischen Belarus und Polen, um die Ostseepipeline Nord Stream 2 und an Russlands Grenze zur Ukraine legen aber Gegenteiliges nahe.
Ein hybrider Krieg, das ist per Definition ein Konflikt, der zugleich offen wie auch verdeckt ausgetragen wird, in dem reguläre und irreguläre, symmetrische und nicht-symmetrische, militärische und nicht-militärische Mittel zur Anwendung kommen. Und all das mit einem Ziel: Die völkerrechtlich definierten Grenzen zwischen den Zuständen Krieg und Frieden zu verwischen und dennoch an ein militärisches Ziel zu kommen.
Es ist ziemlich genau acht Jahre her, als im Spätherbst 2013 die Revolution in der Ukraine losbrach. Schon damals war die Rede von einem hybriden Krieg, den Russland dann in Folge des Umsturzes in Kiew im Frühjahr 2014 gegen sein Nachbarland startete – einer, der gleichermaßen mit Panzern und Artillerie wie über Fernsehkanäle und Demagogen, Desinformation und Faktenverdrehung ausgetragen wurde.
Hybride Kriege
Damals waren viele im Westen Europas der Überzeugung: Dieser Krieg betrifft die Ukraine und Russland, zwei Staaten, die eine lange gemeinsame Geschichte gleichermaßen eint, wie sie sie eben auch entzweit. Aber dass Europa selbst einmal direkt ins Visier der Kremlschen Hybrid-Kriegsmaschine geraten würde, das schlossen viele in Politik und Wirtschaft damals kategorisch aus. Jetzt allerdings wirkt es gar so, als habe niemals so wirklich die Ukraine selbst im Visier gestanden, als eigentlich immer schon Europa.
Wenn Russland in diesen Wochen atomwaffenfähige Bomber über Belarus kreisen lässt, mit der belarussischen Armee eine gemeinsame Militärübung startet, während der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko Migranten an der Grenze zu Polen sammelt und diese Menschen über die Grenze schleudert, als wären sie Artilleriegeschosse, dann kann das nur mit einem Begriff beschrieben werden: hybrider Krieg. Einer allerdings mit einem neuen Ziel: Polen und Litauen – und damit die EU.
Dabei ist die Grenze zwischen Belarus und Polen beziehungsweise Belarus und Litauen nur ein Schauplatz von vielen in dieser Auseinandersetzung: An der Grenze zur Ukraine findet derzeit ein massiver Truppenaufmarsch statt, Moldawien wurde so nebenbei das Gas abgedreht und vor allem in Sachen Nord Stream 2 stockt es. Das fertig gebaute Pipelineprojekt, mit dem aus russischer Sicht problematische Staaten wie die Ukraine, aber auch Belarus umgangen werden könnten, liegt derzeit auf Eis.
Zuletzt hatte die deutsche Bundesnetzagentur ihr Zertifizierungsverfahren ausgesetzt. Der
Zwischenstand: Zunächst muss sich die Betreiberfirma nach deutschem Recht organisieren. Laut EU-Gasrichtlinie müssen Betrieb der Leitung und Vertrieb des Gases ausreichend getrennt sein. Die Unabhängigkeit beider Unternehmen wird dabei in Bezug auf Organisationsaufbau oder Personalstruktur geprüft. Diesen Grundsatz sieht man derzeit offenbar nicht gegeben.
Doch auch wenn die Bundesnetzagentur Nord Stream 2 genehmigt, bleiben Hürden. Vor einer endgültigen Zertifizierung muss noch eine Überprüfung durch die Europäische Kommission erfolgen. Das gibt die EU-Gasrichtlinie vor. Das Verfahren kann sich bis ins Frühjahr 2022 ziehen. Und die Abnahme der Leitung ist durchaus nicht fix. Wie ein Sprecher der Kommission mitteilte, sei die Pipeline eben „kein Projekt von gemeinsamem europäischem Interesse“.
Andere erledigen die Drecksarbeit Sie ist aber ein Projekt von vitalem Interesse für Russland. Und so ist die aus dem Kreml kommende Rhetorik, was dieses Thema angeht, auch streichelweich: Niemand könne und solle auf die Arbeit der Regulatoren Einfluss nehmen, so der Sprecher von Russlands Machthaber Wladimir Putin.
Russland ist gut darin, andere die Drecksarbeit machen zu lassen. Wenn in Österreich oder Deutschland oder Frankreich etwa Dissidenten oder auch einfach unliebsame Personen ermordet wurden, und Tschetschenen mit allerbesten Beziehungen in den tschetschenischen Sicherheitsapparat oder auch direkt in die Duma oder zu russischen Geheimdiensten den Job erledigten. Belarus ist derzeit in genau dieser Lage. Und Polen erledigt den Job ganz im Sinne des Kreml.
„Schauen wir uns an, wie sich die polnischen Sicherheitskräfte an der Grenze verhalten. (...) Das Erste, was einem in den Sinn kommt, sind die armen Kinder. Es gibt dort kleine Kinder, aber nein – sie übergießen sie mit Wasser, werfen Tränengasgranaten.“Das sagte Kremlchef Putin zuletzt.
Es sei nur nebenbei bemerkt, dass Russlands Staatsanwaltschaft da soeben die Auflösung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial beantragt hatte, einer wirklichen Institution in diesem Fachbereich, Trägerin des Alternativen Nobelpreises. Die Zustimmung des Höchstgerichts gilt als Formsache.
Es entspricht durchaus der Kremlschen Taktik, genau dann Auswege zu präsentieren, wenn der Karren so tief im Dreck steckt, dass es kein Vor und Zurück mehr gibt. Frei nach dem Motto: Schaffe das Problem und löse es dann breitenwirksam. Etwa, wenn sich der Kreml nach der Annexion der Krim und der Invasion im Osten der Ukraine als Vermittler im Ukraine-Krieg andient.
Und so tat es Moskau auch im Fall der Grenzkrise: Da präsentierte Außenminister Sergej Lawrow auch gleich die Lösung mit, nachdem er die EU dazu gemahnt hatte, sie müsse mit Belarus ins Gespräch
kommen. Die Idee des Kreml: Ein Deal nach dem Vorbild des EU-Türkei-Abkommens. Es sei gesagt: Lawrow ist ein alter Fuchs im diplomatischen Geschäft, er ist seit 2004 Außenminister Russlands.
Große Truppenansammlung
Freilich gibt es keine nachweisbaren Belege dafür, dass Russland hinter der Migrationskrise steckt. Hinweise gibt es allerdings zuhauf. Und so isoliert, wie der Despot in Minsk ist, so unwahrscheinlich ist es, dass er ein so brandgefährliches Unterfangen wie jenes an der Grenze zu Polen im Alleingang durchzieht, während Russland Soldaten zu Übungen ins Land schickt.
Denn in diesem Fall geht es bald einmal darum, ob die NATO-Staaten Polen oder Litauen Artikel 4 des NATO-Vertrages einfordern. Und der lautet folgendermaßen: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“Das ist der Bündnisfall. Tritt er in Kraft, ist Krieg.
Echter Krieg, wie in der Ukraine – ob nun ausgerufen oder nicht, keinesfalls aber nur mehr hybrid. Derzeit marschieren entlang der Grenze zur Ukraine übrigens an die 100 000 Soldaten auf. Die Rede ist von der größten Truppenansammlung seit dem Jahr 2014. Es wird umgruppiert und in Stellung gebracht und diesmal bei Nacht und nicht wie zuletzt immer gut sichtbar bei Tag.