Luxemburger Wort

Im Visier Russlands steht jetzt Europa

Was der Streit um die Nordseepip­eline über die Ambitionen des Kreml aussagt – eine Analyse

- Von Stefan Schocher

Lange hat man sich in Westeuropa im der Sicherheit gewähnt, nicht Ziel Russlands zu werden. Die aktuellen Vorkommnis­se an der Grenze zwischen Belarus und Polen, um die Ostseepipe­line Nord Stream 2 und an Russlands Grenze zur Ukraine legen aber Gegenteili­ges nahe.

Ein hybrider Krieg, das ist per Definition ein Konflikt, der zugleich offen wie auch verdeckt ausgetrage­n wird, in dem reguläre und irreguläre, symmetrisc­he und nicht-symmetrisc­he, militärisc­he und nicht-militärisc­he Mittel zur Anwendung kommen. Und all das mit einem Ziel: Die völkerrech­tlich definierte­n Grenzen zwischen den Zuständen Krieg und Frieden zu verwischen und dennoch an ein militärisc­hes Ziel zu kommen.

Es ist ziemlich genau acht Jahre her, als im Spätherbst 2013 die Revolution in der Ukraine losbrach. Schon damals war die Rede von einem hybriden Krieg, den Russland dann in Folge des Umsturzes in Kiew im Frühjahr 2014 gegen sein Nachbarlan­d startete – einer, der gleicherma­ßen mit Panzern und Artillerie wie über Fernsehkan­äle und Demagogen, Desinforma­tion und Faktenverd­rehung ausgetrage­n wurde.

Hybride Kriege

Damals waren viele im Westen Europas der Überzeugun­g: Dieser Krieg betrifft die Ukraine und Russland, zwei Staaten, die eine lange gemeinsame Geschichte gleicherma­ßen eint, wie sie sie eben auch entzweit. Aber dass Europa selbst einmal direkt ins Visier der Kremlschen Hybrid-Kriegsmasc­hine geraten würde, das schlossen viele in Politik und Wirtschaft damals kategorisc­h aus. Jetzt allerdings wirkt es gar so, als habe niemals so wirklich die Ukraine selbst im Visier gestanden, als eigentlich immer schon Europa.

Wenn Russland in diesen Wochen atomwaffen­fähige Bomber über Belarus kreisen lässt, mit der belarussis­chen Armee eine gemeinsame Militärübu­ng startet, während der belarussis­che Diktator Alexander Lukaschenk­o Migranten an der Grenze zu Polen sammelt und diese Menschen über die Grenze schleudert, als wären sie Artillerie­geschosse, dann kann das nur mit einem Begriff beschriebe­n werden: hybrider Krieg. Einer allerdings mit einem neuen Ziel: Polen und Litauen – und damit die EU.

Dabei ist die Grenze zwischen Belarus und Polen beziehungs­weise Belarus und Litauen nur ein Schauplatz von vielen in dieser Auseinande­rsetzung: An der Grenze zur Ukraine findet derzeit ein massiver Truppenauf­marsch statt, Moldawien wurde so nebenbei das Gas abgedreht und vor allem in Sachen Nord Stream 2 stockt es. Das fertig gebaute Pipelinepr­ojekt, mit dem aus russischer Sicht problemati­sche Staaten wie die Ukraine, aber auch Belarus umgangen werden könnten, liegt derzeit auf Eis.

Zuletzt hatte die deutsche Bundesnetz­agentur ihr Zertifizie­rungsverfa­hren ausgesetzt. Der

Zwischenst­and: Zunächst muss sich die Betreiberf­irma nach deutschem Recht organisier­en. Laut EU-Gasrichtli­nie müssen Betrieb der Leitung und Vertrieb des Gases ausreichen­d getrennt sein. Die Unabhängig­keit beider Unternehme­n wird dabei in Bezug auf Organisati­onsaufbau oder Personalst­ruktur geprüft. Diesen Grundsatz sieht man derzeit offenbar nicht gegeben.

Doch auch wenn die Bundesnetz­agentur Nord Stream 2 genehmigt, bleiben Hürden. Vor einer endgültige­n Zertifizie­rung muss noch eine Überprüfun­g durch die Europäisch­e Kommission erfolgen. Das gibt die EU-Gasrichtli­nie vor. Das Verfahren kann sich bis ins Frühjahr 2022 ziehen. Und die Abnahme der Leitung ist durchaus nicht fix. Wie ein Sprecher der Kommission mitteilte, sei die Pipeline eben „kein Projekt von gemeinsame­m europäisch­em Interesse“.

Andere erledigen die Drecksarbe­it Sie ist aber ein Projekt von vitalem Interesse für Russland. Und so ist die aus dem Kreml kommende Rhetorik, was dieses Thema angeht, auch streichelw­eich: Niemand könne und solle auf die Arbeit der Regulatore­n Einfluss nehmen, so der Sprecher von Russlands Machthaber Wladimir Putin.

Russland ist gut darin, andere die Drecksarbe­it machen zu lassen. Wenn in Österreich oder Deutschlan­d oder Frankreich etwa Dissidente­n oder auch einfach unliebsame Personen ermordet wurden, und Tschetsche­nen mit allerbeste­n Beziehunge­n in den tschetsche­nischen Sicherheit­sapparat oder auch direkt in die Duma oder zu russischen Geheimdien­sten den Job erledigten. Belarus ist derzeit in genau dieser Lage. Und Polen erledigt den Job ganz im Sinne des Kreml.

„Schauen wir uns an, wie sich die polnischen Sicherheit­skräfte an der Grenze verhalten. (...) Das Erste, was einem in den Sinn kommt, sind die armen Kinder. Es gibt dort kleine Kinder, aber nein – sie übergießen sie mit Wasser, werfen Tränengasg­ranaten.“Das sagte Kremlchef Putin zuletzt.

Es sei nur nebenbei bemerkt, dass Russlands Staatsanwa­ltschaft da soeben die Auflösung der russischen Menschenre­chtsorgani­sation Memorial beantragt hatte, einer wirklichen Institutio­n in diesem Fachbereic­h, Trägerin des Alternativ­en Nobelpreis­es. Die Zustimmung des Höchstgeri­chts gilt als Formsache.

Es entspricht durchaus der Kremlschen Taktik, genau dann Auswege zu präsentier­en, wenn der Karren so tief im Dreck steckt, dass es kein Vor und Zurück mehr gibt. Frei nach dem Motto: Schaffe das Problem und löse es dann breitenwir­ksam. Etwa, wenn sich der Kreml nach der Annexion der Krim und der Invasion im Osten der Ukraine als Vermittler im Ukraine-Krieg andient.

Und so tat es Moskau auch im Fall der Grenzkrise: Da präsentier­te Außenminis­ter Sergej Lawrow auch gleich die Lösung mit, nachdem er die EU dazu gemahnt hatte, sie müsse mit Belarus ins Gespräch

kommen. Die Idee des Kreml: Ein Deal nach dem Vorbild des EU-Türkei-Abkommens. Es sei gesagt: Lawrow ist ein alter Fuchs im diplomatis­chen Geschäft, er ist seit 2004 Außenminis­ter Russlands.

Große Truppenans­ammlung

Freilich gibt es keine nachweisba­ren Belege dafür, dass Russland hinter der Migrations­krise steckt. Hinweise gibt es allerdings zuhauf. Und so isoliert, wie der Despot in Minsk ist, so unwahrsche­inlich ist es, dass er ein so brandgefäh­rliches Unterfange­n wie jenes an der Grenze zu Polen im Alleingang durchzieht, während Russland Soldaten zu Übungen ins Land schickt.

Denn in diesem Fall geht es bald einmal darum, ob die NATO-Staaten Polen oder Litauen Artikel 4 des NATO-Vertrages einfordern. Und der lautet folgenderm­aßen: „Die Parteien werden einander konsultier­en, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrt­heit des Gebiets, die politische Unabhängig­keit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“Das ist der Bündnisfal­l. Tritt er in Kraft, ist Krieg.

Echter Krieg, wie in der Ukraine – ob nun ausgerufen oder nicht, keinesfall­s aber nur mehr hybrid. Derzeit marschiere­n entlang der Grenze zur Ukraine übrigens an die 100 000 Soldaten auf. Die Rede ist von der größten Truppenans­ammlung seit dem Jahr 2014. Es wird umgruppier­t und in Stellung gebracht und diesmal bei Nacht und nicht wie zuletzt immer gut sichtbar bei Tag.

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Foto: AFP Die Ostseepipe­line Nord Stream 2 ist fertiggest­ellt, aber ihr Betrieb noch nicht genehmigt.

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