Verdrängt und vergessen
Ureinwohner trauern am 400. Jahrestag des ersten Thanksgiving-Festes in den USA
Einen Truthahn hatten sie nicht dabei, als eine knappe Hundertschaft vom Stamm der Wampanoag im November 1621 zusammen mit den englischen Siedlern eine Art Erntedank feierten. Stattdessen brachten sie fünf Rehe, Geflügel, Fische und möglicherweise Preiselbeeren als Gastgeschenke – so die Überlieferung. Der Rest der Geschichte geriet in Vergessenheit.
Marginalisierte Vergangenheit
Für die Nachkommen der Ureinwohner ist der 400. Jahrestag von Thanksgiving deshalb alles andere als ein Freudentag. „Wir erkennen den amerikanischen Feiertag nicht an“, erklärt Paula Peters, eine Mashpee Wampanoag, die sich in ihren Büchern mit dem Schicksal der Ureinwohner befasst. „Unsere Vergangenheit ist marginalisiert worden“, klagt sie.
Dabei verdanken die Siedler, die 1620 auf dem Schiff „Mayflower“in der Plymouth Bay von Massachusetts ankamen, ihr Überleben den Wampanoag. Historiker vermuten, Häuptling Ousamequin habe die Neuankömmlinge als Verbündete gegen ihren mächtigeren Nachbarstamm der Narragansett gesucht. „Er befand sich in einer Notlage und ging strategisch vor“, so Steven Peters, der Sohn von Paula Peters. Die Ureinwohner brachten den Neuankömmlingen aus Europa bei, wie sie sich in der fremden Welt ernähren konnten. Gemüse anbauen und Fischgräten als Dünger einsetzen gehörten dazu. Ihre erste Ernte feierten die Pilgerväter mit einem dreitägigen Fest, das aus Sicht der Wampanoag den Beginn von Kolonisierung, Krankheiten und Knechtschaft markiert.
Das romantisierende Bild von den Ursprüngen des Thanksgiving-Festes lässt diesen Aspekt aus. Tatsächlich habe sich danach „unser Leben dramatisch verändert“, meint Darius Coombs, zuständig für kulturelle Belange der Wampanoag, die einmal 100 000 Menschen zählten und zwischen dem Südosten von Massachusetts und Rhode Island lebten. Das „Volk des ersten Lichts“, so die Bedeutung von Wampanoag, kannte schon vor der Ankunft der Siedler den Erntedank. Sie lebten im 17. Jahrhundert in Dutzenden Dörfern und kommunizierten untereinander durch „Botenläufer“. In den strengen Wintermonaten zogen sie ins Landesinnere und kamen erst im Frühling wieder zurück an die Küste.
Schon 1524 trieben sie Handel mit europäischen Entdeckern. Damit begann das große Sterben unter den Wampanoag. Bis dahin unbekannte Krankheiten hatten bis zur Ankunft der „Mayflower“schon zwei Drittel des Stammes dahingerafft.
In die bescheidene Ausstellung der Wampanoag – nur wenig entfernt vom gut besuchten offiziellen Museum in Plymouth Rock – verlieren sich nur wenige Touristen. Dort können Besucher lernen, wie sich die Wertschätzung der Indigenen verändert hat. 1789 drohte in Massachusetts jedem die Todesstrafe, der einem Wampanoag Lesen und Schreiben beibrachte. „Wir hatten eine Gebetoder-Stirb-Politik“, so Anita Peters, die den traditionellen Namen „Mother Bear“trägt. „Wer nicht zum Christentum übertrat, musste fliehen oder wurde getötet.“
Warten auf Gerechtigkeit
Für die Nation der Wampanoag ist Thanksgiving seit 1970 ein nationaler Trauertag. Sie mussten bis 2015 warten, bevor ihnen Präsident Barack Obama 300 Hektar ihres früheren Landes zur treuhändischen Verwaltung übergab – gerade einmal ein halbes Prozent ihres historischen Grund und Bodens. Nachfolger Donald Trump versuchte, das wieder rückgängig zu machen. Bis jetzt warten die Wampanoag auf Rechtssicherheit für die symbolische Geste durch eine endgültige Entscheidung der Innenministerin Deb Haaland. Sie ist die erste Indigene an der Spitze des Ministeriums. 400 Jahre nach dem ersten ThanksgivingFest wäre dies aus Sicht der Ureinwohner mindestens ein kleines Stück Gerechtigkeit.