Geheimniskrämerei
Jeder Mensch hat seine Stärken und Schwächen. Zu Letzteren zählt bei mir ganz sicher die Geheimniskrämerei. Nicht in dem Sinne, dass man mir nichts im Vertrauen sagen könnte. Solche Sachen sind bei mir ganz gut aufgehoben. Die Rede ist vielmehr davon, wenn ich einen Menschen, der mir lieb ist, mit einem Geschenk oder einer kleinen Aufmerksamkeit überraschen will. Denn insbesondere bei den kleinen Aufmerksamkeiten überwiegt bei mir immer die Vorfreude auf die Reaktion des Beschenkten – vor allem wenn ich weiß, dass ich ins Schwarze getroffen habe. In diesem Sinne ist Vorfreude dann allerdings nicht die schönste Freude, sondern die reinste Qual. Denn am
Als Kind war ich ein wahrer Meister der Ungeduld.
liebsten würde ich meinem Gegenüber direkt mitteilen, dass ich etwas für ihn habe, das ihm sicherlich Freude bereiten wird. Sie ahnen es, die Tage vor Geburtstagen oder auch die Vorweihnachtszeit stellen mich nicht nur jedes Mal vor die ein oder andere Hürde, sie sorgen auch für Schweißausbrüche und zwingen mich dazu, immer wieder auf die Zähne zu beißen und durchzuhalten. Meist versuche ich, das Thema gar nicht erst anzusprechen – auch wenn es tief in meinem Inneren glüht. Denn so kann ich am besten vermeiden, mich irgendwann zu verplappern und gleich herauszuposaunen, was genau ich mir überlegt habe, um meinem Gegenüber eine Freude zu bereiten. Oder im Gegenzug eine Person dazu zu bringen, mir im Vorfeld Details über ein Geschenk für mich zu verraten.
Als Kind war ich ein wahrer Meister der Ungeduld und habe immer versucht, lange im Vorfeld herauszufinden, was sich unter dem Geschenkpapier verstecken könnte. Mittlerweile hat sich das geändert. Denn wenn die Überraschung am Ende keine Überraschung mehr ist, ist das doch irgendwie auch blöd. Sophie
was. Andere stimmen dem beflissen zu. Und noch andere bemühen sich, die hasserfüllten Worte zu überbieten, um sich Anerkennung zu verdienen. „Das Herdenschaf bleibt in der Gruppe und schließt jeglichen kritischen Verstand aus, es gibt keine Menschlichkeit mehr, kein Hinterfragen“, führt David Lentz aus. „Anstatt einer Herdenimmunität kommt dann nur noch Herdendummheit. Und irgendwann steht dann ein Satz im Raum, so groß wie ein Lastwagen im Wohnzimmer.“
20 neue Fälle pro Monat
Ihren Weg zur Staatsanwaltschaft finden hasserfüllte Botschaften in den meisten Fällen über das Meldeportal Stopline von Bee-Secure (siehe Kasten). Das ist eine Internetseite, die ursprünglich unter dem Titel „Lisa Stopline“eingerichtet worden war, um Meldungen zu Darstellungen von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen im Internet entgegenzunehmen. Mittlerweile richtet sich die Plattform auch gegen Rassismus, Revisionismus oder Diskriminierung und ist Teil der Terrorismusbekämpfung. Internetnutzer können sich beschweren, wenn sie strafbare Handlungen vermuten.
2007 brachte die heutige Erste Generalstaatsanwältin Simone Flammang den ersten HatespeechFall zur Anklage. Seitdem habe die Zahl ständig zugenommen – vor allem seit sämtliche Alterskategorien sich mit Facebook und anderen sozialen Netzwerken familiarisiert hätten, sagt Dominique Peters. „Das ist dann dahingeplätschert bis zur Migrationskrise im Jahr 2015“, erzählt sie. „Da wurden wir ganz massiv mit Meldungen überschüttet.“
Seitdem sei die Zahl der Meldungen beständig geblieben – etwa 20 pro Monat würden derzeit bearbeitet. „Die Migrationskrise wurde nicht komplett abgelöst von der Pandemie, und die Pandemie hat auch neue Sorten von Posts hervorgebracht, die problematisch sind. Zwischen den Hetzern von 2015 und jenen aus dem CoronaKontext gibt es auffällige Gemeinsamkeiten – die Staatsanwaltschaft
Kommentare in TelegramKanälen von Impf- und Maßnahmengegnern: Nutzer „Odin“, der sich bereits durch fragwürdige Aussagen hervortat, hatte kürzlich erklärt, eine RTLJournalistin befinde sich „auf seiner Liste“. In einer Audiobotschaft deutete er nun an, Mitarbeiter des Ministeriums für Chancengleichheit zu sein. spricht von Schnittmengen zwischen verschiedenen Gruppen.
„Mich hat sehr erschreckt, dass unter den Menschen, gegen die wir ermitteln, sehr viele sind, die hauptberuflich im psychosozialen und pädagogischen Bereich arbeiten“, wirft David Lentz ein. „Die sind ja eigentlich da, um den Menschen zu helfen. Die sitzen dann vor einem Bildschirm und hetzen irgendwann aus heiterem Himmel nur so drauflos. Dabei sind das Menschen, von denen man das sicher nicht erwarten würde.“
Bei den Ermittlungen besteht der erste Schritt darin, festzustellen, ob eine mutmaßliche Hassbotschaft auch dem Code pénal zufolge als strafbar gilt. „Da gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte“, erläutert Dominique Peters. „Das sind etwa die Gesetze über Incitation à la haine und Outrage à un corps constitué – tatsächlich richten sich viele Hassposts derzeit auch gegen die Polizei. Dazu kommt der Straftatbestand Menace d'attentat. Politiker sind dabei derzeit die großen Gewinner“, unterstreicht sie in erkennbar sarkastischem Ton.
Das Netz auf Eigeninitiative nach mutmaßlichen Hassstraftaten zu durchsuchen, wäre für die Staatsanwaltschaft zu aufwendig. Deshalb ist sie auf Meldungen von Bürgern angewiesen. Das kann ohne großen Aufwand über das Stopline-Portal von Bee-Secure erfolgen. Dabei handelt es sich im rechtlichen Sinne um eine Signalisierung und nicht um eine Denunzierung – wer den Verdacht einer Straftat meldet, ist demnach nicht haftbar, falls die Tat sich im Endeffekt als nicht strafbar herausstellt.
„Melden Sie Straftaten im Netz!“
„Wir können die Bürger, die sich an derartigen Verhalten stören oder selbst Ziel von Hassposts wurden, nur dazu ermutigen, diese auch zu melden“, so David Lentz. „Auch wenn grenzwertige Posts vielleicht nicht sofort zu einer Strafverfolgung führen, dann können sie dennoch später dazu beitragen, das Verhaltensmuster eines Tatverdächtigen zu belegen“, ergänzt Dominique Peters. „Dann wissen wir, diese Person war schon einmal auffällig und dadurch werden verschiedene grenzwertige Äußerungen auf einmal deutlich grenzüberschreitend.“Man lasse sich auf die Mühen einer derartigen Dokumentation ein – ohne den Droit à l’oubli der Tatverdächtigen aus dem Blick zu verlieren.
Die Identifizierung der Tatverdächtigen kann indes über viele unterschiedliche Wege erfolgen. IP-Adressen spielen eine entscheidende Rolle. „Polizeiarbeit ist oft eine regelrechte Knobelarbeit”, so Dominique Peters. Und tatsächlich sei es, wenn Tatverdächtige nicht ihren Klarnamen benutzen, häufig so, dass zunächst einmal viele Puzzleteile zusammengetragen werden müssten, die dann aber oft ein zielführendes Bild ergeben. Dass diese Arbeit der Anti-Terrorismussektion der Kriminalpolizei zukommt, zeigt, wie ernst die Staatsanwaltschaft Hatespeech nimmt. Die Beamten seien spezialisiert, könnten einen Sachverhalt präzise einschätzen und auch den richtigen Ton anschlagen.
„Denn, wenn eine Äußerung im Netz als strafbar erkannt und der Urheber identifiziert ist, sind es diese Beamten, welche die Verdächtigen zum Gespräch vorladen“, erläutert David Lentz. „Und deren Arbeit ist dann vorerst eigentlich quasi pädagogisch.“
Strafe ist nicht das oberste Ziel
Der Staatsanwaltschaft ist nämlich nicht daran gelegen, möglichst viele Täter vor Gericht zu bringen, es gehe darum, deren Verhalten zu ändern. Deshalb wird für die meisten Beschuldigten zunächst eine rund 60 Stunden umfassende professionelle Betreuung durch das Zentrum für Deradikalisierung, respect.lu, angeordnet. „Es geht in erster Linie darum, zu verhindern, dass die Täter rückfällig werden“, betont David Lentz. Wenn die Sensibilisierungsmaßnahmen allerdings scheitern oder abgelehnt werden, strebt die Staatsanwaltschaft ein Gerichtsverfahren an.
Die Justiz befasst sich nicht nur mit mutmaßlichen Straftätern, sondern bietet auch Opfern eine Anlaufstelle. Der Service d'aide aux victimes des Service central d'assistance sociale begleitet sie und bietet psychologische und administrative Hilfestellung.
Auch Personen, die sich bedroht fühlen, können sich an den Dienst wenden, selbst wenn die Aussagen sich letzten Endes nicht als strafrechtlich relevant erweisen, betont Dominique Peters. Nur weil die Staatsanwaltschaft nicht in jedem Fall eingreifen würde oder könnte, seien im Internet zu lesende Aussagen noch lange nicht akzeptabel.
„Allerdings ist es auch an der Zivilgesellschaft, selbst Grenzen zu setzen und zu entscheiden, welche Aussagen sie toleriert“, so Dominique Peters. Auch den Plattformbetreibern komme dabei eine Verantwortung zu, fragwürdige Inhalte zu löschen.
Für Personen, die durch die Anstrengungen der Staatsanwaltschaft ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen, hat Peters als erfahrener Substitut principal indes einen ganz einfachen Ratschlag: „Wer nicht will, dass gegen ihn ermittelt wird, sollte ganz einfach keine Hassrede betreiben.“