Luxemburger Wort

Halb so wild

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„Ja. Wir haben uns Höhlen gebaut. Da ist es warm und trocken. Trolle sind ganz gute Bergleute, musst du wissen.“

„Ist das der Grund, warum man euch so selten sieht?“, frage ich. „Weil ihr euch in euren Höhlen versteckt?“

„Das auch“, antwortet Magnus. „Und wir sind Meister der Tarnung. Wenn ein Troll nicht gesehen werden will, dann wirst du ihn auch nicht sehen.“

„Das klingt, als könntet ihr euch unsichtbar machen.“

„Wie meinst du das? Redest du von Zauberei?“, fragt Magnus.

„Könnte doch sein“, erwidere ich. „Ihr seid Trolle. Würde mich nicht wundern, wenn ihr auch zaubern könntet.“

„Klar können wir das“, antwortet Magnus. „Allerdings braucht man keine Zauberei, um sich vor einem Menschen zu verstecken. Ihr seid nämlich sehr leicht zu überlisten.“

„Und wovon lebt ihr?“, will ich wissen.

„Wir sammeln, fischen und jagen. Und wir tauschen.“

„Mit anderen Sippen, oder wie?“„Nein, so viele Trolle gibt es nun auch wieder nicht. Hauptsächl­ich machen wir Tauschgesc­häfte mit den Menschen.“„Wie das? Ich denke, man sieht euch so selten.“

„Ja. Wir tauschen sozusagen einseitig“, erklärt Magnus. „Wir nehmen uns, was wir brauchen, und geben dafür etwas anderes.“

„Und wie genau funktionie­rt das?“

„Ich schleiche mich auf einen Hof, und wenn der Bauer nicht hinsieht, dann nehme ich mir, was ich brauche. Sagen wir mal, einen Krug Milch, eine Wurst und zwei Lammfelle. Dafür hinterlass­e ich vielleicht einen kleinen Runenstein, der dem Bauern eine gute Ernte bringen wird.“

„Moment mal. Du bekommst Milch, Wurst und Lammfelle, der Bauer aber nur ein Steinchen?“

„Einen Runenstein“, korrigiert Magnus. „Er hat magische Kräfte, besonders, wenn man ihn von einem Troll geschenkt bekommt.“

„Das klingt trotzdem nicht nach einem fairen Tausch“, wende ich ein.

„Warum nicht?“, fragt Magnus verdutzt.

„Weil du wertvolle Lebensmitt­el bekommst, der Bauer aber nur einen Talisman, von dem er nicht mal weiß, ob er ihm wirklich Glück bringt.“

Magnus überlegt kurz, dann sagt er: „Ich erzähle dir jetzt mal eine wahre Geschichte. Die fünfjährig­e Tochter eines reichen Bauern läuft mitten in der Nacht unbemerkt aus dem Haus, weil sie das Blöken eines Lämmchens gehört hat und nun glaubt, das Tier brauche ihre Hilfe. Drei Trolle, die zufällig in der Nähe sind, sehen das Kind und folgen ihm unbemerkt. Als die Kleine auf einer schmalen Steinbrück­e

einen reißenden Fluss überqueren will, stürzt sie ab und wird sofort von den Wassermass­en mitgerisse­n. Die Trolle, mutig und robust, wie Trolle nun mal sind, stürzen sich ebenfalls in die Fluten und versuchen, das ertrinkend­e Mädchen zu retten. Sie schaffen es, ihren leblosen Körper an der nächsten Flussbiegu­ng aus dem Wasser zu ziehen. Das Kind ist blass, hat blaue Lippen, und es atmet nicht mehr. Einer der Trolle wickelt die Kleine in ein Schaffell. Da ertönt plötzlich lautes Rufen, und dann sind auf den Felsen über ihnen die zuckenden Lichter zweier Laternen zu sehen. Der Bauer und sein Knecht suchen nach dem Kind und sehen nun, dass sich unten am Flussufer etwas bewegt. Während die drei Trolle sich in aller Eile verstecken, finden die Männer das Mädchen. Der Vater sieht, dass sie nicht mehr atmet, und drückt die Kleine verzweifel­t an sich. Da plötzlich erbricht das Kind in hohem Bogen einen Schwall Wasser. Sie japst, röchelt und hustet, dann beginnt sie zu weinen. Auch dem Bauern kommen nun die Tränen. Er wiegt das vor Kälte und Erschöpfun­g zitternde Kind glücklich in seinen Armen und trägt es zurück ins warme Haus.“

Magnus schiebt seinen Teller beiseite. „Schöne Geschichte, oder?“

Ich nicke bewegt. „Sehr schöne Geschichte.“

Magnus lehnt sich vor. „Und nun rate mal, was am nächsten Morgen passiert ist.“

„Keine Ahnung. Sag es mir.“„Als der Knecht in den Stall kommt, stellt er fest, dass drei Schafe fehlen.“

„Die Trolle haben drei Schafe genommen?“

Magnus nickt. „Im Tausch gegen das Leben der Tochter. Der Bauer war kein armer Bauer, musst du wissen. Er hatte mehr als hundert Schafe. Aber dieses Mädchen war sein einziges Kind.“Magnus macht eine Kunstpause, dann fügt er hinzu: „Und jetzt sag mir, Adam: Drei Schafe gegen das Leben der Kleinen. War das ein fairer Tausch?“

„Mehr als fair“, antworte ich. „Die Trolle hätten auch zehn Schafe nehmen können oder gleich die halbe Herde. Ich bin sogar davon überzeugt, der Bauer hätte alle Schafe hergegeben, um das Leben seiner Tochter zu retten.“

Magnus grinst. „Cool. Schuldest du mir jetzt auch hundert Schafe, weil ich dir das Leben gerettet habe?“

„Ach, darauf willst du hinaus“, sage ich lächelnd. „Ich würde dir sofort hundert Schafe schenken, aber leider bin ich momentan etwas knapp bei Kasse, weil ich ein paar ungeplante Internetbe­stellungen bezahlen muss, zum Beispiel einen Hot Tub und einen Jetski.“

Magnus winkt ab. „Schon okay, Adam. Entspann dich. Behalte deine Schafe und dein Geld. Ich hab alles, was ich brauche. Mein Großvater sagt immer: Wohlstand kommt und geht wie die Wellen des Meeres. Deshalb sorge dich nicht und genieße den Ausblick.“

„Dein Großvater scheint ein kluger Mann zu sein.“

„Das ist er. Und er hat die Nebelhunge­rsnot überlebt. Seitdem bringt ihn praktisch nichts mehr aus der Ruhe.“

„Was war das, diese Nebelhunge­rsnot?“

„Nicht so wichtig“, sagt Magnus ausweichen­d. „Ist auch schon lange her.“

„Und diese Runenstein­e, von denen du eben gesprochen hast, ist das so eine Art Trollzaube­r?“, frage ich.

„Ja, kann man so sagen“, antwortet Magnus. „Warum fragst du? Brauchst du einen?“

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