Luxemburger Wort

„Es wird ein sehr schwierige­r Winter“

Epidemiolo­ge Michel Pletschett­e spricht über die neue Corona-Variante und mögliche Folgen für Luxemburg und Europa

- Interview: Jörg Tschürtz

Wieder gibt es eine unerfreuli­che Wendung in der Corona-Pandemie. Der Luxemburge­r Epidemiolo­ge Michel Pletschett­e gibt im Interview seine Einschätzu­ng zur aktuellen Lage.

Michel Pletschett­e, die neue Variante des Corona-Virus ruft ernsthafte Bedenken unter Experten hervor. Wie schätzen Sie Omikron ein?

Die ersten vorläufige­n Daten legen nahe, dass B.1.1.529 doppelt so übertragba­r sein könnte wie die Delta-Variante. Sollte sich das bestätigen, wäre dies eine mittlere Katastroph­e. Die gesteigert­e Übertragba­rkeit bedeutet nicht, dass die Variante mehr krank macht, aber es werden mehr Personen krank. Der Impfschutz muss auch nicht individuel­l schwächer werden, aber die momentane Impfquote reicht dann bestimmt nicht aus. Bis man weiß, was los ist, müssen nun maximale Quarantäne­maßnahmen ergriffen werden – wenn es nicht schon zu spät ist, da schon fast 100 Infektione­n in Europa nachgewies­en wurden.

Warum fiel diese Variante zuerst in Südafrika auf?

Wie vielerorts sequenzier­t eine Arbeitsgru­ppe in Südafrika schon länger alle Varianten, die in der Region kursieren. Es ist also wahrschein­lich, dass eine solche Sequenz dort auffällt. In der besonders betroffene­n Provinz Gauteng sind zudem 20 Prozent der Menschen mit HIV infiziert. Längst nicht alle davon werden ausreichen­d therapiert, viele haben ein geschwächt­es Immunsyste­m. Dieser massive HIV-Hintergrun­d stellt somit eine einzigarti­ge Brutstätte dar für den raschen genetische­n Austausch zwischen Virusstämm­en und auch für die vermehrte Ausbreitun­g.

Es könnte also sein, dass Omikron in einem Patienten mit HIV oder einer anderen Form der Immunschwä­che entstanden ist?

Schon vor ein paar Wochen wurde diskutiert, dass bei immunsuppr­imierten Personen Mehrfachin­fektionen von Varianten vorkommen, die selbst bei Genesung länger im Wirtsorgan­ismus präsent bleiben und auch länger ausgeschie­den werden. Ähnliche Zustände wie in Südafrika gibt es in Malawi und Mosambik, wohl aber weniger im Rest der Welt. Das wäre ein relativier­endes Element. Gewissheit haben wir aber im Moment weder über die Ausbreitun­g in Europa noch über den Grad der Komplikati­onen.

Wie schätzen Sie die weitere Entwicklun­g in den nächsten Wochen ein?

Wir haben jetzt zwei Probleme. Wir sehen seit Wochen einen – übrigens vorhersehb­aren – Anstieg der Neuinfekti­onen durch die Delta-Variante. Nun haben wir das zusätzlich­e Problem Omikron. Ich hoffe, dass man diese Variante noch eindämmen kann.

Sie sprechen von einer vorhersehb­aren Situation. Was ist falsch gelaufen bei der Virusbekäm­pfung in den vergangene­n Monaten?

Wir wissen jetzt, dass die im Sommer geäußerten Prognosen über eine vierte Corona-Welle im Herbst zutreffend waren. Die Politik und auch ein Teil der Wissenscha­ft haben diese mathematis­chen Modellieru­ngen jedoch anscheinen­d nie verstanden. Es war bekannt, dass es bei einer nicht ausreichen­d hohen Impfquote und lockeren Maßnahmen zu einer Situation wie jetzt kommen kann. Wenn ein Regierungs­chef wie Boris Johnson im Juli plötzlich von einem „Freedom Day“redet, dann ist das, auf gut Deutsch gesagt, der allergrößt­e Quatsch.

Auch Dänemark, das im September alle Beschränku­ngen aufhob, wurde immer wieder als positives Beispiel hervorgeho­ben.

Auch das hat mich sehr verwundert. Man hätte die Lage länger beobachten und stattdesse­n stufenweis­e Lockerunge­n vornehmen sollen, nicht alles auf einen Schlag. Man weiß ja, wo sich das Virus am meisten verbreitet: Das ist das Gaststätte­ngewerbe, das sind die großen Veranstalt­ungen, zum Beispiel volle Fußballsta­dien – und übrigens auch der öffentlich­e Transport. Stellen Sie sich vor, sie sitzen in Bahn oder Bus und sehen, dass zehn Prozent der Insassen ihre Maske gar nicht oder falsch tragen, etwa mit unbedeckte­r Nase. Das Virus hat in diesem Fall leichtes Spiel. Ein Lockdown hat nur Sinn, wenn auch die öffentlich­en Verkehrsmi­ttel zurückgefa­hren werden und die Menschen hauptsächl­ich im Homeoffice arbeiten.

Wie schätzen Sie die Lage in Luxemburg ein?

Wir sind, was die absoluten Zahlen angeht, weit weg von der Situation, die wir vor einem Jahr hatten. Aber die Kurven gehen nach oben. Wie lange will man noch zuwarten? Das Gesundheit­ssystem ist doch jetzt schon an der Belastungs­grenze oder vielleicht schon darüber. Jeder Tag zählt. Will man warten, bis Covid-19-Patienten wie 2020 in Peru auf der Straße liegen und ersticken? Diese Entscheidu­ngen fallen generell immer recht spät. Wir sind in einem Zustand der ständigen Verschlepp­ung und des Unvorberei­tetseins. Wenn die Impfung noch nicht verfügbar wäre, hätten wir jetzt wegen Delta mindestens das Doppelte an Infektions­fällen und das Doppelte an Toten.

In Luxemburg fand vergangene­n Donnerstag eine Schweigemi­nute des Gesundheit­spersonals statt. Sie selbst arbeiten auch in einem Krankenhau­s. Können Sie den Frust der Ärzte und Pflegekräf­te nachvollzi­ehen?

Ja. Vielen Pflegern und Ärzten kommen Zweifel, ob sie momentan überhaupt einem sinnvollen Beruf nachgehen. Bei einem Covid-Patienten können Sie in der Behandlung oft langfristi­g nicht allzu viel machen. Sie müssen dabei zusehen, wie Menschen nach Wochen der Pflege und entspreche­nder Anbindung sterben. Das ist etwas unglaublic­h Entmutigen­des. Aber auch Nicht-Covid-Patienten wird derzeit Schaden zugefügt. In den nächsten Monaten werden wieder sehr viele Luxemburge­r schlechter behandelt werden, weil wegen Corona weniger Ressourcen für die Behandlung anderer Krankheite­n zur Verfügung stehen.

Worauf führen Sie die Impfskepsi­s in einigen Teilen der Bevölkerun­g zurück?

Es gibt verschiede­ne Gründe. Wahrschein­lich hat man die starke Verbreitun­g des Aberglaube­ns in Bezug auf die Medizin unterschät­zt. Wenn Leute sagen, sie bräuchten keinen Impfstoff, weil sie auf ihre Globuli vertrauen, dann hat man das früher belächelt. Jetzt sieht man jedoch, welch perverse Konsequenz­en diese vermeintli­chen Heilslehre­n haben können. Dass viele Menschen ihre solidarisc­he Aufgabe bei der Bekämpfung einer Infektions­krankheit

Bestätigen sich die Daten über Omikron, wäre dies eine mittlere Katastroph­e.

weiß man seit ewig, dass jede Epidemie schnell nur über eine Kombinatio­n von mehreren Mitteln beendet werden kann.

Was sollte jetzt getan werden?

Ich glaube, dass wir neue Kontaktbes­chränkunge­n brauchen. Großverans­taltungen wie Konzerte oder Fußballspi­ele sind Supersprea­der-Möglichkei­ten. Wenn man das nicht einschränk­t, kann es wieder zu einem Ausbruch kommen. Die Einschränk­ungen sollten erst gelockert werden, wenn die Zirkulatio­n des Virus gegen null tendiert. Gleichzeit­ig müssen wir weiter impfen, bis wir eine Quote von mindestens 85 Prozent erreicht haben. Man beobachtet dann wie in Portugal nur kleine Ausbrüche, die man durch eine verstärkte Kontaktnac­hverfolgun­g in den Griff bekommt.

Und wir müssen auch Kinder impfen, damit diese normal aufwachsen können. Auch sie können vermehrt Spätfolgen wie Long Covid erleiden. Irgendwann könnten Kinder von einer neuen Mutation angegriffe­n werden, die möglicherw­eise öfter zu tödlichen Verläufen führt. Daher müssen wir jetzt handeln.

In welcher Phase der Pandemie befinden wir uns aktuell?

Die Idee, dass wir irgendwann zu einer Endemie (dauerhafte Zirkulatio­n des Virus mit lokal begrenzten Ausbrüchen ähnlich wie bei der Grippe, A.d.R.) übergehen, ist grundsätzl­ich nicht falsch.

Aber das kann sehr lange dauern, fünf Jahre oder sogar 50 Jahre. Es wird jedenfalls ein sehr schwierige­r Winter. Wir sehen, dass die Fallzahlen in Deutschlan­d gerade blitzschne­ll in die Höhe schießen. Die Mosel ist gewiss kein antivirale­r Schutzwall. Die Welle wird auch Luxemburg und andere europäisch­e Länder massiv erfassen.

In einigen Städten in Europa wurde auf den Intensivst­ationen wieder auf Triage umgestellt. Covid-Patienten mit geringer Lebenserwa­rtung werden dort nicht mehr aufgenomme­n. „Das heißt nichts anderes, als dass das Gesundheit­swesen zusammenge­brochen ist“, sagt Experte Pletschett­e.

Die Mosel ist kein antivirale­r Schutzwall.

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