„Es wird ein sehr schwieriger Winter“
Epidemiologe Michel Pletschette spricht über die neue Corona-Variante und mögliche Folgen für Luxemburg und Europa
Wieder gibt es eine unerfreuliche Wendung in der Corona-Pandemie. Der Luxemburger Epidemiologe Michel Pletschette gibt im Interview seine Einschätzung zur aktuellen Lage.
Michel Pletschette, die neue Variante des Corona-Virus ruft ernsthafte Bedenken unter Experten hervor. Wie schätzen Sie Omikron ein?
Die ersten vorläufigen Daten legen nahe, dass B.1.1.529 doppelt so übertragbar sein könnte wie die Delta-Variante. Sollte sich das bestätigen, wäre dies eine mittlere Katastrophe. Die gesteigerte Übertragbarkeit bedeutet nicht, dass die Variante mehr krank macht, aber es werden mehr Personen krank. Der Impfschutz muss auch nicht individuell schwächer werden, aber die momentane Impfquote reicht dann bestimmt nicht aus. Bis man weiß, was los ist, müssen nun maximale Quarantänemaßnahmen ergriffen werden – wenn es nicht schon zu spät ist, da schon fast 100 Infektionen in Europa nachgewiesen wurden.
Warum fiel diese Variante zuerst in Südafrika auf?
Wie vielerorts sequenziert eine Arbeitsgruppe in Südafrika schon länger alle Varianten, die in der Region kursieren. Es ist also wahrscheinlich, dass eine solche Sequenz dort auffällt. In der besonders betroffenen Provinz Gauteng sind zudem 20 Prozent der Menschen mit HIV infiziert. Längst nicht alle davon werden ausreichend therapiert, viele haben ein geschwächtes Immunsystem. Dieser massive HIV-Hintergrund stellt somit eine einzigartige Brutstätte dar für den raschen genetischen Austausch zwischen Virusstämmen und auch für die vermehrte Ausbreitung.
Es könnte also sein, dass Omikron in einem Patienten mit HIV oder einer anderen Form der Immunschwäche entstanden ist?
Schon vor ein paar Wochen wurde diskutiert, dass bei immunsupprimierten Personen Mehrfachinfektionen von Varianten vorkommen, die selbst bei Genesung länger im Wirtsorganismus präsent bleiben und auch länger ausgeschieden werden. Ähnliche Zustände wie in Südafrika gibt es in Malawi und Mosambik, wohl aber weniger im Rest der Welt. Das wäre ein relativierendes Element. Gewissheit haben wir aber im Moment weder über die Ausbreitung in Europa noch über den Grad der Komplikationen.
Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung in den nächsten Wochen ein?
Wir haben jetzt zwei Probleme. Wir sehen seit Wochen einen – übrigens vorhersehbaren – Anstieg der Neuinfektionen durch die Delta-Variante. Nun haben wir das zusätzliche Problem Omikron. Ich hoffe, dass man diese Variante noch eindämmen kann.
Sie sprechen von einer vorhersehbaren Situation. Was ist falsch gelaufen bei der Virusbekämpfung in den vergangenen Monaten?
Wir wissen jetzt, dass die im Sommer geäußerten Prognosen über eine vierte Corona-Welle im Herbst zutreffend waren. Die Politik und auch ein Teil der Wissenschaft haben diese mathematischen Modellierungen jedoch anscheinend nie verstanden. Es war bekannt, dass es bei einer nicht ausreichend hohen Impfquote und lockeren Maßnahmen zu einer Situation wie jetzt kommen kann. Wenn ein Regierungschef wie Boris Johnson im Juli plötzlich von einem „Freedom Day“redet, dann ist das, auf gut Deutsch gesagt, der allergrößte Quatsch.
Auch Dänemark, das im September alle Beschränkungen aufhob, wurde immer wieder als positives Beispiel hervorgehoben.
Auch das hat mich sehr verwundert. Man hätte die Lage länger beobachten und stattdessen stufenweise Lockerungen vornehmen sollen, nicht alles auf einen Schlag. Man weiß ja, wo sich das Virus am meisten verbreitet: Das ist das Gaststättengewerbe, das sind die großen Veranstaltungen, zum Beispiel volle Fußballstadien – und übrigens auch der öffentliche Transport. Stellen Sie sich vor, sie sitzen in Bahn oder Bus und sehen, dass zehn Prozent der Insassen ihre Maske gar nicht oder falsch tragen, etwa mit unbedeckter Nase. Das Virus hat in diesem Fall leichtes Spiel. Ein Lockdown hat nur Sinn, wenn auch die öffentlichen Verkehrsmittel zurückgefahren werden und die Menschen hauptsächlich im Homeoffice arbeiten.
Wie schätzen Sie die Lage in Luxemburg ein?
Wir sind, was die absoluten Zahlen angeht, weit weg von der Situation, die wir vor einem Jahr hatten. Aber die Kurven gehen nach oben. Wie lange will man noch zuwarten? Das Gesundheitssystem ist doch jetzt schon an der Belastungsgrenze oder vielleicht schon darüber. Jeder Tag zählt. Will man warten, bis Covid-19-Patienten wie 2020 in Peru auf der Straße liegen und ersticken? Diese Entscheidungen fallen generell immer recht spät. Wir sind in einem Zustand der ständigen Verschleppung und des Unvorbereitetseins. Wenn die Impfung noch nicht verfügbar wäre, hätten wir jetzt wegen Delta mindestens das Doppelte an Infektionsfällen und das Doppelte an Toten.
In Luxemburg fand vergangenen Donnerstag eine Schweigeminute des Gesundheitspersonals statt. Sie selbst arbeiten auch in einem Krankenhaus. Können Sie den Frust der Ärzte und Pflegekräfte nachvollziehen?
Ja. Vielen Pflegern und Ärzten kommen Zweifel, ob sie momentan überhaupt einem sinnvollen Beruf nachgehen. Bei einem Covid-Patienten können Sie in der Behandlung oft langfristig nicht allzu viel machen. Sie müssen dabei zusehen, wie Menschen nach Wochen der Pflege und entsprechender Anbindung sterben. Das ist etwas unglaublich Entmutigendes. Aber auch Nicht-Covid-Patienten wird derzeit Schaden zugefügt. In den nächsten Monaten werden wieder sehr viele Luxemburger schlechter behandelt werden, weil wegen Corona weniger Ressourcen für die Behandlung anderer Krankheiten zur Verfügung stehen.
Worauf führen Sie die Impfskepsis in einigen Teilen der Bevölkerung zurück?
Es gibt verschiedene Gründe. Wahrscheinlich hat man die starke Verbreitung des Aberglaubens in Bezug auf die Medizin unterschätzt. Wenn Leute sagen, sie bräuchten keinen Impfstoff, weil sie auf ihre Globuli vertrauen, dann hat man das früher belächelt. Jetzt sieht man jedoch, welch perverse Konsequenzen diese vermeintlichen Heilslehren haben können. Dass viele Menschen ihre solidarische Aufgabe bei der Bekämpfung einer Infektionskrankheit
Bestätigen sich die Daten über Omikron, wäre dies eine mittlere Katastrophe.
weiß man seit ewig, dass jede Epidemie schnell nur über eine Kombination von mehreren Mitteln beendet werden kann.
Was sollte jetzt getan werden?
Ich glaube, dass wir neue Kontaktbeschränkungen brauchen. Großveranstaltungen wie Konzerte oder Fußballspiele sind Superspreader-Möglichkeiten. Wenn man das nicht einschränkt, kann es wieder zu einem Ausbruch kommen. Die Einschränkungen sollten erst gelockert werden, wenn die Zirkulation des Virus gegen null tendiert. Gleichzeitig müssen wir weiter impfen, bis wir eine Quote von mindestens 85 Prozent erreicht haben. Man beobachtet dann wie in Portugal nur kleine Ausbrüche, die man durch eine verstärkte Kontaktnachverfolgung in den Griff bekommt.
Und wir müssen auch Kinder impfen, damit diese normal aufwachsen können. Auch sie können vermehrt Spätfolgen wie Long Covid erleiden. Irgendwann könnten Kinder von einer neuen Mutation angegriffen werden, die möglicherweise öfter zu tödlichen Verläufen führt. Daher müssen wir jetzt handeln.
In welcher Phase der Pandemie befinden wir uns aktuell?
Die Idee, dass wir irgendwann zu einer Endemie (dauerhafte Zirkulation des Virus mit lokal begrenzten Ausbrüchen ähnlich wie bei der Grippe, A.d.R.) übergehen, ist grundsätzlich nicht falsch.
Aber das kann sehr lange dauern, fünf Jahre oder sogar 50 Jahre. Es wird jedenfalls ein sehr schwieriger Winter. Wir sehen, dass die Fallzahlen in Deutschland gerade blitzschnell in die Höhe schießen. Die Mosel ist gewiss kein antiviraler Schutzwall. Die Welle wird auch Luxemburg und andere europäische Länder massiv erfassen.
In einigen Städten in Europa wurde auf den Intensivstationen wieder auf Triage umgestellt. Covid-Patienten mit geringer Lebenserwartung werden dort nicht mehr aufgenommen. „Das heißt nichts anderes, als dass das Gesundheitswesen zusammengebrochen ist“, sagt Experte Pletschette.
Die Mosel ist kein antiviraler Schutzwall.