Halb so wild
34
„Nein. Ich dachte, er will in Berlin Urlaub machen. Sich einen bisschen den Wind um die Nase wehen lassen. Mehr nicht. Was befürchten Sie denn, was er auf dem Kerbholz hat?“
Hannesson zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber leider ist so ziemlich alles denkbar. Im letzten dokumentierten Fall, das war 1871, begleitete der Troll Baldur Bjarnason den Chicagoer Schuhfabrikanten Jeremiah Porter nach Amerika. Baldur hatte im Streit zwei Bauern erschlagen und hätte sich dafür vor dem Thing verantworten müssen. Deshalb kehrte er Island den Rücken.“
„Was?“Ich bin entsetzt über Baldurs Gräueltat. Außerdem muss ich daran denken, dass Magnus am Tag unseres Kennenlernens partout nicht nach Hause wollte. Im Gegenteil. Am liebsten hätte er auf der Stelle mit mir das Land verlassen. Mit Schaudern denke ich daran, dass eine blutige Familienfehde ihn zur Flucht gezwungen haben könnte. Lebe ich womöglich mit einem Schwerstkriminellen zusammen?
„Das Thing ist übrigens der Vorläufer des isländischen Parlaments. Früher trafen sich die Isländer einmal im Jahr an einem Ort im Südwesten des Landes. In Thingvellir wurden Gesetze beschlossen, und es wurde Recht gesprochen.“
„Und Baldur wäre dort verurteilt worden, nehme ich an.“
Hannesson nickt. „Vermutlich. Es ist zumindest die einzig plausible Erklärung dafür, dass er quasi über Nacht abgehauen ist.“
Genau wie Magnus, denke ich, und frage: „Hat Baldur in Chicago Probleme gemacht?“
Hannesson zögert einen Moment, bevor er antwortet. „Tja, wir haben keine gesicherten Erkenntnisse, weil die Quellenlage recht dürftig ist. Und wir möchten natürlich auch niemanden zu Unrecht beschuldigen.“
„Raus mit der Sprache“, sage ich. „Was hat er angestellt?“
„Nun ja, leider spricht einiges dafür, dass er den großen Brand von Chicago verursacht hat“, gesteht Hannesson kleinlaut. „Gut möglich, dass die Hälfte der Stadt in Rauch aufgegangen ist, weil Baldur seine brennende Pfeife in einem Pferdestall verloren hat. Jedenfalls ist das einer der Gründe, weshalb wir seitdem so großen Wert darauf legen, dass ein Troll, der Island verlassen will, von einer geeigneten Person beaufsichtigt wird.“
„Aber ich bin kein bisschen geeignet“, wende ich ein. „Können Sie sich nicht vielleicht doch selbst um ihn kümmern?“
„Das würde er niemals wollen“, erwidert Hannesson. „Magnus hat Sie ausgewählt.“
Ich seufze müde. „Wissen Sie wenigstens, wie lange ich auf ihn aufpassen muss?“
Der Botschafter zuckt mit den Schultern. „Vielleicht nur ein paar Tage, vielleicht auch ein paar Monate. Vielleicht sogar für immer.“
„Für immer?“, wiederhole ich überfordert. „Der Kerl hat mir erzählt, dass er ein paar hundert Jahre alt werden kann. Ich müsste also auch dann noch für ihn sorgen, wenn ich längst ein Tattergreis bin?“
Der Botschafter hebt bedauernd die Arme. „Ich weiß es doch auch nicht, Dr. Schmitt. Aber ich rate Ihnen, Magnus nach Möglichkeit nicht von der Seite zu weichen. Trolle haben oft sehr komische Ideen.“
„Das weiß ich“, sage ich und muss an den Hot Tub, die Maßanzüge und den Jetski denken. „Vermutlich sollte ich besser mal nach ihm sehen.“
„Tun Sie das“, antwortet Hannesson und gibt mir seine Visitenkarte. „Hier ist meine Handynummer. Sie können mich jederzeit anrufen.“
„Haben Sie mal was von einer Nebelhungersnot gehört?“, frage ich, während er mich zur Pforte begleitet.
Hannesson nickt. „Das war die Folge eines verheerenden Vulkanausbruchs und die schlimmste Katastrophe, die Island je heimgesucht hat.“
„Und wann ist das passiert?“„1783“, antwortet Hannesson. „Es gehört zu den Jugenderinnerungen von Magnus’ Großvater.“
Der Botschafter nickt. „Die Trolle haben den Isländern damals sehr geholfen. Die Elfen übrigens ebenso. Das werden wir ihnen nie vergessen. Sorgen Sie also gut für den ehrenwerten Magnus Magnusson.“
„Ich werde es versuchen“, sage ich und spüre eine leichte Nervosität bei dem Gedanken daran, was mein ehrenwerter Freund wohl gerade so treibt.
11
Schon von weitem sehe ich die dunklen Rauchwolken. Irgendwo nördlich vom Brandenburger Tor brennt es. Der unmittelbar angrenzende Häuserblock scheint nicht betroffen zu sein. Die Gebäude am Pariser Platz werden zwar von Rauchschwaden umweht, wirken aber unversehrt.
Weil mir das Grünzeug des Tiergartens ständig die Sicht versperrt, verlasse ich den Park in Richtung Ebertstraße. Von hier aus habe ich einen besseren Überblick. Ich sehe das Reichstagsgebäude. Es ist ebenfalls unbeschädigt. Das Feuer muss also weiter östlich wüten, irgendwo in der Nähe der Spree, vermute ich, vielleicht sogar am anderen Flussufer.
Während ich Kurs auf das Brandenburger Tor nehme, beschleicht mich das ungute Gefühl, dass Magnus etwas mit diesen schwarzen Wolken zu tun haben könnte. Ich schiebe meine Sorge jedoch rasch beiseite.
Bestimmt ist sie nur ein Nachgeschmack dessen, was ich über Baldur Bjarnason und sein versehentliches Niederbrennen von halb Chicago gehört habe.
Der Pariser Platz hat sich merklich geleert. Viele der Touristen, die eben noch Selfies vor dem Brandenburger Tor geschossen haben, sind wohl Richtung Spree gepilgert, um sich auch noch rasch mit einer Feuersbrunst in Szene zu setzen.
Am Ende der Wilhelmstraße bin ich ganz schön aus der Puste. Ich nehme mir vor, schon bald mit Sport anzufangen. Oder wenigstens mit einer Diät.
Dann sehe ich, was die Ursache der dunklen Wolken über Berlin ist. Mitten auf der Spree brennt ein Ausflugsdampfer.