Putschgerüchte in Kiew
Ukrainische Regierungskreise warnen vor einem prorussischen Umsturz
Oleksandr Kornienko, Vizesprecher der Obersten Rada, riet den Journalisten vor der gestrigen Sitzung, frühzeitig ins Gebäude des ukrainischen Parlaments zu kommen. „Im Rahmen des Umsturzes könnten die Eingänge blockiert werden“. Nicht nur in der Regierungsfraktion „Diener des Volkes“, auch im ukrainischen Präsidialbüro und in Teilen der Sicherheitsorgane herrscht seit Tagen Alarmstellung. Staatschef Wolodymyr Selenskyi persönlich warnte vergangene Woche vor einem von Russland unterstützten Staatsstreich. Der Präsident befürchtet, die Putschisten könnten die Proteste ausnutzen, die die Opposition gestern in Kiew startete.
Mögliche Beteiligung eines Oligarchen
Man habe Audioaufzeichnungen, auf denen Vertreter aus der Ukraine und Russland eine Beteiligung des ostukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow an dem Umsturz besprächen, sagte Selenskyi bereits am Freitag vor Journalisten. Eine Milliarde US-Dollar stünden für den Putsch zur Verfügung. „Achmetow wird in einen Krieg gegen die Ukraine hineingezogen, er hat ihn angefangen.“
Das US-Portal „Buzzfeed News“meldete unter Berufung auf Quellen aus der Umgebung des Präsidenten,
ein Offizier des russischen Geheimdienstes FSB befehlige die Aktion, auch drei Überläufer aus den ukrainischen Sicherheitsorganen seien beteiligt. Und laut Kornienko werden Bürgern in der Provinz für die Teilnahme am Umsturz in Kiew 1 000 Hrywnja (umgerechnet rund 32 Euro) täglich angeboten.
Der mögliche Putsch wurde vor dem Hintergrund eines russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze und westlichen Warnungen vor einer Invasion zum Thema. Allerdings glauben viele Beobachter in Kiew, dahinter verberge sich eher das innenpolitische Kalkül des Selenskyi-Lagers.
Das Portal „liga.net“zitiert mehrere Sicherheitsbeamte, es habe tatsächlich Gespräche des russischen
Staatschef Wolodymyr Selenskyi bei seiner Rede vor dem ukrainischen Parlament. Geheimdienstes mit früheren Polizeioffizieren der Ukraine gegeben. Aber von Achmetow sei dabei keine Rede gewesen. „Der Hauptgrund für Selenskyis Ausführungen über den Putsch war wohl sein Versuch, bei seiner großen Pressekonferenz am Freitag die Initiative zu ergreifen, um unangenehme Fragen zu vermeiden“, sagte der Politologe Ihor Rejterowitsch gegenüber dem „Luxemburger Wort“.
Proteste getragen von patriotischen Gruppen
Tatsächlich stehen nicht prorussische Kräfte hinter den gestrigen Protesten, sondern sehr patriotische Gruppen. Dazu gehören die „Bewegung gegen die Kapitulation“und die „Demokratische Axt“, die die Entlassung von Selenskyis Bürochef Andrej Jermak fordern. Nationalistische Splitterparteien wie „Freiheit“oder das „Nationalkorps“unterstützen sie, aber auch Parlamentarier prowestlicher Oppositionsfraktionen wie „Europäische Solidarität“oder „Vaterland“. Und die liberale „Volksfront“, die wohl auch deshalb Neuwahlen fordert, weil sie beim zurückliegenden Urnengang 2019 aus dem Parlament flog. Aber gerade angesichts der russischen Invasionsgefahr beschwören die Organisatoren Gewaltfreiheit und Disziplin ihrer Anhänger.
Selenskyi vermutet, der Oligarch Achmetow versuche, Parlamentarier zu kaufen, um eine neue prorussische Fraktion zu organisieren. Und Regierungsabgeordnete werfen Achmetow vor, seine Medien berichteten seit etwa einem Monat feindseliger über Selenskyis Politik. „Tatsächlich treten jetzt in Achmetows TV-Kanälen weniger ,Diener des Volkes' auf“, sagt Politologe Rejterowitsch. „Aber das ist ihre eigene Entscheidung.“Vorher hätten Vertreter der Regierungsfraktion versucht, den Redakteuren vorzuschreiben, welche Studiogäste sie sonst noch einzuladen hätten: „Wir kommen nur, wenn Ihr bestimmte Politologen oder Politiker streicht“. Indem man Achmetow jetzt als mutmaßlichen Putschisten darstelle, wolle man den Druck auf ihn erhöhen.
Bei Redaktionsschluss war eine Kundgebung auf dem Kiewer Maidan noch im Gang. Tagsüber hatten etwa 500 Menschen friedlich vor dem Parlamentsgebäude demonstriert. Einzig ein Oppositionsparlamentarier versuchte vergeblich, mit einem Plakat in den Sitzungssaal vorzudringen. Selenskyi selbst bemühte sich in einer Rede vor dem Parlament zumindest außenpolitisch um Entspannung. Ohne direkte Verhandlungen mit Russland, sagte er, könne man den Krieg im Donbass nicht beenden.