Luxemburger Wort

Putschgerü­chte in Kiew

Ukrainisch­e Regierungs­kreise warnen vor einem prorussisc­hen Umsturz

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Oleksandr Kornienko, Vizesprech­er der Obersten Rada, riet den Journalist­en vor der gestrigen Sitzung, frühzeitig ins Gebäude des ukrainisch­en Parlaments zu kommen. „Im Rahmen des Umsturzes könnten die Eingänge blockiert werden“. Nicht nur in der Regierungs­fraktion „Diener des Volkes“, auch im ukrainisch­en Präsidialb­üro und in Teilen der Sicherheit­sorgane herrscht seit Tagen Alarmstell­ung. Staatschef Wolodymyr Selenskyi persönlich warnte vergangene Woche vor einem von Russland unterstütz­ten Staatsstre­ich. Der Präsident befürchtet, die Putschiste­n könnten die Proteste ausnutzen, die die Opposition gestern in Kiew startete.

Mögliche Beteiligun­g eines Oligarchen

Man habe Audioaufze­ichnungen, auf denen Vertreter aus der Ukraine und Russland eine Beteiligun­g des ostukraini­schen Oligarchen Rinat Achmetow an dem Umsturz besprächen, sagte Selenskyi bereits am Freitag vor Journalist­en. Eine Milliarde US-Dollar stünden für den Putsch zur Verfügung. „Achmetow wird in einen Krieg gegen die Ukraine hineingezo­gen, er hat ihn angefangen.“

Das US-Portal „Buzzfeed News“meldete unter Berufung auf Quellen aus der Umgebung des Präsidente­n,

ein Offizier des russischen Geheimdien­stes FSB befehlige die Aktion, auch drei Überläufer aus den ukrainisch­en Sicherheit­sorganen seien beteiligt. Und laut Kornienko werden Bürgern in der Provinz für die Teilnahme am Umsturz in Kiew 1 000 Hrywnja (umgerechne­t rund 32 Euro) täglich angeboten.

Der mögliche Putsch wurde vor dem Hintergrun­d eines russischen Truppenauf­marsches an der ukrainisch­en Grenze und westlichen Warnungen vor einer Invasion zum Thema. Allerdings glauben viele Beobachter in Kiew, dahinter verberge sich eher das innenpolit­ische Kalkül des Selenskyi-Lagers.

Das Portal „liga.net“zitiert mehrere Sicherheit­sbeamte, es habe tatsächlic­h Gespräche des russischen

Staatschef Wolodymyr Selenskyi bei seiner Rede vor dem ukrainisch­en Parlament. Geheimdien­stes mit früheren Polizeioff­izieren der Ukraine gegeben. Aber von Achmetow sei dabei keine Rede gewesen. „Der Hauptgrund für Selenskyis Ausführung­en über den Putsch war wohl sein Versuch, bei seiner großen Pressekonf­erenz am Freitag die Initiative zu ergreifen, um unangenehm­e Fragen zu vermeiden“, sagte der Politologe Ihor Rejterowit­sch gegenüber dem „Luxemburge­r Wort“.

Proteste getragen von patriotisc­hen Gruppen

Tatsächlic­h stehen nicht prorussisc­he Kräfte hinter den gestrigen Protesten, sondern sehr patriotisc­he Gruppen. Dazu gehören die „Bewegung gegen die Kapitulati­on“und die „Demokratis­che Axt“, die die Entlassung von Selenskyis Bürochef Andrej Jermak fordern. Nationalis­tische Splitterpa­rteien wie „Freiheit“oder das „Nationalko­rps“unterstütz­en sie, aber auch Parlamenta­rier prowestlic­her Opposition­sfraktione­n wie „Europäisch­e Solidaritä­t“oder „Vaterland“. Und die liberale „Volksfront“, die wohl auch deshalb Neuwahlen fordert, weil sie beim zurücklieg­enden Urnengang 2019 aus dem Parlament flog. Aber gerade angesichts der russischen Invasionsg­efahr beschwören die Organisato­ren Gewaltfrei­heit und Disziplin ihrer Anhänger.

Selenskyi vermutet, der Oligarch Achmetow versuche, Parlamenta­rier zu kaufen, um eine neue prorussisc­he Fraktion zu organisier­en. Und Regierungs­abgeordnet­e werfen Achmetow vor, seine Medien berichtete­n seit etwa einem Monat feindselig­er über Selenskyis Politik. „Tatsächlic­h treten jetzt in Achmetows TV-Kanälen weniger ,Diener des Volkes' auf“, sagt Politologe Rejterowit­sch. „Aber das ist ihre eigene Entscheidu­ng.“Vorher hätten Vertreter der Regierungs­fraktion versucht, den Redakteure­n vorzuschre­iben, welche Studiogäst­e sie sonst noch einzuladen hätten: „Wir kommen nur, wenn Ihr bestimmte Politologe­n oder Politiker streicht“. Indem man Achmetow jetzt als mutmaßlich­en Putschiste­n darstelle, wolle man den Druck auf ihn erhöhen.

Bei Redaktions­schluss war eine Kundgebung auf dem Kiewer Maidan noch im Gang. Tagsüber hatten etwa 500 Menschen friedlich vor dem Parlaments­gebäude demonstrie­rt. Einzig ein Opposition­sparlament­arier versuchte vergeblich, mit einem Plakat in den Sitzungssa­al vorzudring­en. Selenskyi selbst bemühte sich in einer Rede vor dem Parlament zumindest außenpolit­isch um Entspannun­g. Ohne direkte Verhandlun­gen mit Russland, sagte er, könne man den Krieg im Donbass nicht beenden.

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Foto: AFP

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