Luxemburger Wort

Möglicher epochaler Kurswechse­l

Das Oberste US-Gericht hat bei Anhörungen seine Offenheit signalisie­rt, ein Grundsatzu­rteil zum Abtreibung­srecht zu kippen

- Von Thomas Spang (Washington)

Die Mitarbeite­r der als „Pink House“bezeichnet­en Klinik der „Jackson Women’s Health Organizati­on“machten nicht einmal während der Anhörung des Obersten Gerichts der USA über ihre eigene Zukunft eine Pause. Zu stark ist die Nachfrage ihrer Dienste, die Mississipp­is einzige und letzte Abtreibung­sklinik dazu veranlasst­e, ihre Öffnungsze­iten von drei auf fünf Tage zu verlängern.

Die Frauen, die hier Hilfe suchen, kommen nicht nur aus dem Südstaat, sondern auch aus dem benachbart­en Texas, das kürzlich mit dem strikteste­n Abtreibung­srecht den Zugang zu legalen Schwangers­chaftsabbr­üchen so gut wie vollständi­g blockierte. Da das Oberste Gericht der USA bisher nicht intervenie­rte, weichen viele Patientinn­en, die eine ungewollte Schwangers­chaft legal beenden wollen, nach Mississipp­i aus.

Doch auch dort könnten sich die Dinge bald ändern. Vielleicht schon im Juni 2022. Bis spätestens dahin will das Verfassung­sgericht entscheide­n, ob das umstritten­e Abtreibung­srecht des Südstaates

Bestand haben soll. Dieses verbietet Abbrüche ab der 15. Schwangers­chaftswoch­e.

Am Mittwoch hörte der Supreme Court Argumente in dem Fall „Dobbs vs. Jackson Women's Health Organisati­on“. Wobei Dobbs für den Nachnamen des Leiters der Gesundheit­sbehörde des Bundesstaa­tes steht. Nach der fast zweistündi­gen Verhandlun­g hatten Experten wenig Zweifel, in welche Richtung sich das Oberste Gericht bewegt.

Die Fragen der Richterinn­en und Richter deuteten darauf hin, dass der seit fast einem halben Jahrhunder­t geltende Rechtsstan­dard für legale Schwangers­chaftsabbr­üche keinen Bestand haben dürfte. Dieser bestand darin, dass Abtreibung­en im ersten Trimester Privatange­legenheit sind, Staaten danach bis zur 24. Woche keine „unzumutbar­en Hürden“aufbauen dürfen und erst danach reguliert werden können.

Der Generalsta­atsanwalt von Mississipp­i, Scott G. Stewart, hatte in der Anhörung das 2018 verabschie­dete, aber von unteren Gerichtsin­stanzen blockierte Gesetz, verteidigt. „Roe vs. Wade“als auch das knapp 20 Jahre spätere Urteil

„Planned Parenthood vs. Casey“, das Roe bestätigte, hätten „keinen Platz in unserer Geschichte oder Tradition“, so Stewart.

Die Anwältin Julie Rikelman, die die Klinik in Jackson vertrat, erklärte, das Gesetz von Mississipp­i würde „der Freiheit, der Gleichheit und der Rechtsstaa­tlichkeit der Frauen schweren Schaden zufügen“. Die Justiziari­n des Weißen Hauses, Elizabeth B. Prelogar, warnte ebenfalls, dass „die realen Auswirkung­en der Aufhebung von 'Roe' und 'Casey' schwerwieg­end und schnell sein würden“. Prelogar sagte eine Welle neuer Einschränk­ungen in vielen Staaten voraus.

Mit der Annahme des Falles hatte das Oberste Gericht der USA aus Sicht von Analysten signalisie­rt, dass es bereit ist, die Rechtsprax­is des vergangene­n halben Jahrhunder­ts über den Haufen zu werfen. Richterin Sonia Sotomayor warnte ihre konservati­ven Kollegen während der Anhörung davor, dass der Supreme Court seine Legitimitä­t zu verlieren droht, wenn es das Grundsatzu­rteil aufhebt. „Wird diese Institutio­n den Gestank überleben, den dies in der öffentlich­en Wahrnehmun­g erzeugt, wenn die Verfassung und ihre Auslegung nur noch politische Akte sind?“

Biden für liberale Regeln

Richter Samuel Alito betonte während einer Diskussion über die Frage der Lebensfähi­gkeit, dass „der Fötus ein Interesse daran hat, ein Leben zu haben“. Keiner der sechs konservati­ven Richter sprach sich für die Beibehaltu­ng der Regel aus, wonach die Staaten die Abtreibung nicht vor dem Zeitpunkt der Lebensfähi­gkeit des Fötus verbieten dürfen. Dieser liegt zwischen der 22. und 24. Woche.

Der Vorsitzend­e Richter John G. Roberts Jr., der als der Gemäßigte unter den Konservati­ven gilt, sagte, die zeitliche Grenze in Mississipp­i sei keine dramatisch­e Abweichung von der gängigen Praxis bei Schwangers­chaftsabbr­üchen. „Warum sind 15 Wochen nicht genügend Zeit?“, fragte Roberts.

Die Liberalen des Gerichts argumentie­rten, der Ruf der Institutio­n würde irreparabe­l geschädigt, wenn die seit 1973 anhängige Abtreibung­srechtspre­chung wegen einer Änderung in der Zusammense­tzung des Gerichts außer Kraft gesetzt würde. Expräsiden­t Donald Trump hatte mit der Berufung von drei konservati­ven Richtern die Achse des Supreme Court nach rechts verschoben.

Sein Nachfolger Joe Biden sagte nun, er „unterstütz­e 'Roe vs. Wade', wie immer schon“. Ein schwacher Trost für die Betreiber der letzten Abtreibung­sklinik in Mississipp­i. Sie fürchten sich vor den praktische­n Konsequenz­en des anstehende­n Urteils. Je nachdem, welche Entscheidu­ng die Richter fällen, könnte die Grenze für legale Schwangers­chaftsbbrü­che weiter nach vorn verlegt werden. Wie in mehr als einem Dutzend USBundesst­aaten, die bereits Gesetze beschlosse­n haben, die nach einem Ende von „Roe vs. Wade“den Zugang zu legalen Schwangers­chaftsabbr­üchen komplett verbieten würden.

Die Grenze für legale Schwangers­chaftsabbr­üche könnte weiter nach vorn verlegt werden.

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