Möglicher epochaler Kurswechsel
Das Oberste US-Gericht hat bei Anhörungen seine Offenheit signalisiert, ein Grundsatzurteil zum Abtreibungsrecht zu kippen
Die Mitarbeiter der als „Pink House“bezeichneten Klinik der „Jackson Women’s Health Organization“machten nicht einmal während der Anhörung des Obersten Gerichts der USA über ihre eigene Zukunft eine Pause. Zu stark ist die Nachfrage ihrer Dienste, die Mississippis einzige und letzte Abtreibungsklinik dazu veranlasste, ihre Öffnungszeiten von drei auf fünf Tage zu verlängern.
Die Frauen, die hier Hilfe suchen, kommen nicht nur aus dem Südstaat, sondern auch aus dem benachbarten Texas, das kürzlich mit dem striktesten Abtreibungsrecht den Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen so gut wie vollständig blockierte. Da das Oberste Gericht der USA bisher nicht intervenierte, weichen viele Patientinnen, die eine ungewollte Schwangerschaft legal beenden wollen, nach Mississippi aus.
Doch auch dort könnten sich die Dinge bald ändern. Vielleicht schon im Juni 2022. Bis spätestens dahin will das Verfassungsgericht entscheiden, ob das umstrittene Abtreibungsrecht des Südstaates
Bestand haben soll. Dieses verbietet Abbrüche ab der 15. Schwangerschaftswoche.
Am Mittwoch hörte der Supreme Court Argumente in dem Fall „Dobbs vs. Jackson Women's Health Organisation“. Wobei Dobbs für den Nachnamen des Leiters der Gesundheitsbehörde des Bundesstaates steht. Nach der fast zweistündigen Verhandlung hatten Experten wenig Zweifel, in welche Richtung sich das Oberste Gericht bewegt.
Die Fragen der Richterinnen und Richter deuteten darauf hin, dass der seit fast einem halben Jahrhundert geltende Rechtsstandard für legale Schwangerschaftsabbrüche keinen Bestand haben dürfte. Dieser bestand darin, dass Abtreibungen im ersten Trimester Privatangelegenheit sind, Staaten danach bis zur 24. Woche keine „unzumutbaren Hürden“aufbauen dürfen und erst danach reguliert werden können.
Der Generalstaatsanwalt von Mississippi, Scott G. Stewart, hatte in der Anhörung das 2018 verabschiedete, aber von unteren Gerichtsinstanzen blockierte Gesetz, verteidigt. „Roe vs. Wade“als auch das knapp 20 Jahre spätere Urteil
„Planned Parenthood vs. Casey“, das Roe bestätigte, hätten „keinen Platz in unserer Geschichte oder Tradition“, so Stewart.
Die Anwältin Julie Rikelman, die die Klinik in Jackson vertrat, erklärte, das Gesetz von Mississippi würde „der Freiheit, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit der Frauen schweren Schaden zufügen“. Die Justiziarin des Weißen Hauses, Elizabeth B. Prelogar, warnte ebenfalls, dass „die realen Auswirkungen der Aufhebung von 'Roe' und 'Casey' schwerwiegend und schnell sein würden“. Prelogar sagte eine Welle neuer Einschränkungen in vielen Staaten voraus.
Mit der Annahme des Falles hatte das Oberste Gericht der USA aus Sicht von Analysten signalisiert, dass es bereit ist, die Rechtspraxis des vergangenen halben Jahrhunderts über den Haufen zu werfen. Richterin Sonia Sotomayor warnte ihre konservativen Kollegen während der Anhörung davor, dass der Supreme Court seine Legitimität zu verlieren droht, wenn es das Grundsatzurteil aufhebt. „Wird diese Institution den Gestank überleben, den dies in der öffentlichen Wahrnehmung erzeugt, wenn die Verfassung und ihre Auslegung nur noch politische Akte sind?“
Biden für liberale Regeln
Richter Samuel Alito betonte während einer Diskussion über die Frage der Lebensfähigkeit, dass „der Fötus ein Interesse daran hat, ein Leben zu haben“. Keiner der sechs konservativen Richter sprach sich für die Beibehaltung der Regel aus, wonach die Staaten die Abtreibung nicht vor dem Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Fötus verbieten dürfen. Dieser liegt zwischen der 22. und 24. Woche.
Der Vorsitzende Richter John G. Roberts Jr., der als der Gemäßigte unter den Konservativen gilt, sagte, die zeitliche Grenze in Mississippi sei keine dramatische Abweichung von der gängigen Praxis bei Schwangerschaftsabbrüchen. „Warum sind 15 Wochen nicht genügend Zeit?“, fragte Roberts.
Die Liberalen des Gerichts argumentierten, der Ruf der Institution würde irreparabel geschädigt, wenn die seit 1973 anhängige Abtreibungsrechtsprechung wegen einer Änderung in der Zusammensetzung des Gerichts außer Kraft gesetzt würde. Expräsident Donald Trump hatte mit der Berufung von drei konservativen Richtern die Achse des Supreme Court nach rechts verschoben.
Sein Nachfolger Joe Biden sagte nun, er „unterstütze 'Roe vs. Wade', wie immer schon“. Ein schwacher Trost für die Betreiber der letzten Abtreibungsklinik in Mississippi. Sie fürchten sich vor den praktischen Konsequenzen des anstehenden Urteils. Je nachdem, welche Entscheidung die Richter fällen, könnte die Grenze für legale Schwangerschaftsbbrüche weiter nach vorn verlegt werden. Wie in mehr als einem Dutzend USBundesstaaten, die bereits Gesetze beschlossen haben, die nach einem Ende von „Roe vs. Wade“den Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen komplett verbieten würden.
Die Grenze für legale Schwangerschaftsabbrüche könnte weiter nach vorn verlegt werden.