Zwei von drei geschafft
SPD und FDP feiern den Ampel-Vertrag – die Grünen brauchen noch
Martin Schulz ist nicht da. Das ist schade. Denn ihn könnte man jetzt fragen, ob 98,8 Prozent wirklich ein so tolles Ergebnis sind, wie es scheint. Wenn jemand ausdeuten kann, was es bedeutet, wenn die SPD sich jemandem – oder etwas – zu Füßen wirft, dann der Kanzlerkandidaten-Vorgänger von Olaf Scholz. Gut, bei Schulz waren es satte 100 – aber die Begeisterung hielt nicht einmal elf Monate. Dann war Schulz alles los: Parteivorsitz – und Sympathie der Genossinnen und Genossen; von Unterstützung gleich ganz zu schweigen.
Dieses Mal gilt der Überschwang Scholz; mindestens indirekt. Zur Abstimmung steht der Koalitionsvertrag, den er, am Ende von wochenlangen Sitzungen, mit den Vorsitzenden von Grünen und FDP endverhandelt hat – oder, wie viele nun sagen: glattgezogen. Da und dort heißt es, ein bisschen zu glatt. Aber da und dort – das verortet Scholz ausschließlich in den Medien. Die er für notorisch mäkelig hält und ungerecht, vor allem und besonders mit der SPD. Und mit sich selbst sowieso.
Scholz und sein Selbstbewusstsein Nicht dass ihn das anföchte. Scholz leidet ganz grundsätzlich nicht an Selbstzweifeln. Und falls sich da irgendwo in ihm doch Unsicherheiten befinden sollten – dann zeigt er sie nie. Stur hat er einen – für ihn 13 Monate dauernden – Wahlkampf lang behauptet, er wolle Bundeskanzler werden. Obwohl die Republik ihn für grenzverrückt gehalten hat – und die eigene Partei zumindest nicht ernst genommen.
Jetzt, wo es fast so weit ist – die Kanzler-Wahl im Bundestag ist für Mittwochmorgen anberaumt – gibt Scholz eine kleine Vorstellung seines Selbstbewusstseins. Er erinnert daran, wie die SPD 1969 zum ersten Mal den Kanzler der Bundesrepublik stellte – und sagt: „Ein solcher Aufbruch soll uns wieder gelingen.“
Das ist, einerseits, keine Überraschung. Weil ja schon das Motto des Ampel-Vertrags, der zur Abstimmung steht – „Mehr Fortschritt wagen“– bei Willy Brandt, freundlich formuliert, entlehnt ist. Andererseits ist es auch ein sehr hoher Anspruch. Denn Brandt gilt den Deutschen auch im zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre als der Kanzler, der ihr Land am mutigsten – und zugleich am emotionalsten – verändert hat.
Dass Scholz gleich anschließend auch 1998 erwähnt, den Start in die sieben Gerhard-SchröderJahre, die der SPD so gar nicht gutgetan haben, und „auch das war ein Aufbruch“sagt: Das ist ganz sicher mindestens auch dem Willen geschuldet, die künftigen Koalitionspartner gut und dazu ganz exakt gleich zu behandeln. Denn Brandt war mit der FDP im Bunde – Schröder mit den Grünen.
„Fortschritt“– auch das sagt Scholz – „ergibt sich nicht. Der wird gemacht.“Insgesamt redet er zu seinem Parteitag – der rein digital anwesend ist – keine halbe Stunde. Anderentags wird Christian Lindner das – beim FDP-Parteitag, ebenfalls digital, ebenfalls zur Absegnung des Ampel-Vertrags – locker auf mehr als das Doppelte steigern.
Bei Lindner geht es vor allem darum, diverses Misstrauen in ein einziges Vertrauen zu verwandeln. Stur verortet er die Ampel in „der Mitte“, stur preist er Scholz, der „mit großem Geschick vermocht“habe, „zuvor Trennendes zu verbinden“. Und vor allem versucht er eine kleine Kreisquadratur. Ja die
FDP habe jede Menge in den Vertrag hineinverhandelt – aber nein, deshalb seien SPD und erst recht die Grünen keinesfalls Verlierer.
Man wird erst am heutigen Montag wissen, wie deren Basis das sieht. Denn anders als SPD und FDP lassen die Grünen keinen Parteitag, sondern die gut 120 000 Mitglieder über die Ampel entscheiden. Aber weil selbst die Spitze der Grünen-Jugend den Vertrag für okay erklärt hat – ist mit Ablehnung eher nicht zu rechnen. Die Frage ist: Wie hoch fällt die Zustimmung aus?
92,2 Prozent der FDP sagen „ja“Bei der FDP müssen sich Lindner & Co. keine Sorgen machen. „Es gibt quasi nichts in diesem Koalitionsvertrag, dem ich nicht guten oder besten Gewissens zustimmen könnte“, lobt Clarisse Höhle aus Nordrhein-Westfalen, die als Erste digital zum Reden kommt. Der Ex-Juli-Boss Lasse Becker ist später nicht ganz so enthusiastisch: „Licht und Schatten“, sagt er. Aber dazu ebenfalls ein ganz klares „Ja“.
Lindner mahnt, ganz zum Schluss, die Verantwortung der FDP reiche „über das hinaus, was deren Wählerinnen und Wähler wollen“. Und zuvor hat er betont, im Ampel-Vertrag sei ganz klar mehr liberale Politik als vor vier Jahren mit der Union und den Grünen möglich gewesen sei – dem Jamaika-Bündnis, das er im allerletzten Moment platzen ließ.
Diesmal detoniert nichts. 92,24 Prozent Ja-Stimmen werden es am Ende – für das die FDP gut eineinhalb Stunden länger braucht als die SPD tags zuvor. Deutschland darf das als ein donnerndes „Ja!“verstehen. Wie die 98 Prozent der Sozialdemokraten. Am Ende redet nicht Lindner, sondern der künftige Minister für Verkehr und Digitales. Und nach Volker Wissing ahnt man, dass Prozente allein gar nichts sagen.
Fortschritt ergibt sich nicht. Der wird gemacht. Olaf Scholz (SPD)