Luxemburger Wort

Halb so wild

- Audi

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„Können Sie mir nicht zuerst einmal sagen, was hier überhaupt los ist?“

Gerdes überlegt kurz. „Tja, Dr. Schmitt. Fakt ist, dass wir es hier mit einem sehr außergewöh­nlichen Fall zu tun haben. In ihrem Schreibtis­ch liegen nämlich die sterbliche­n Überreste der Brüder Grimm.“

„Der… Brüder Grimm?“, wiederholt­e ich perplex. „Sie meinen aber jetzt nicht die weltberühm­ten Brüder Grimm, oder?“

„Doch, Dr. Schmitt. Genau die meine ich. Die Märchenonk­el. Die Typen, die uns Rumpelstil­zchen, Dornrösche­n, Rotkäppche­n und Das tapfere Schneiderl­ein beschert haben.“

„Hänsel und Gretel nicht zu vergessen“, füge ich ehrfürchti­g hinzu. Der Gedanke daran, dass solch berühmte Knochen in meinem Schreibtis­ch liegen, erfüllt mich mit beinahe heiligem Respekt.

„Ja, auch die. Und Frau Holle und König Drosselbar­t und Der Fischer und seine Frau“, zählt Gerdes weiter auf. „Und natürlich Rapunzel und Aschenputt­el.“

„Wow. Sie kennen sich wirklich gut aus“, lobe ich.

Er lächelt versonnen. Vielleicht muss er gerade daran denken, wie er vor einem halben Jahrhunder­t auf dem Schoß seiner Mutter saß und Grimms Märchen lauschte.

„Hatten Sie als Kind eigentlich ein Lieblingsm­ärchen?“, frage ich.

„Der singende Knochen“, antwortet Gerdes wie aus der Pistole geschossen.

„Kenne ich gar nicht.“

„Es geht da um einen Brudermord. Viele Jahre nach dieser Gräueltat findet ein Hirte zufällig einen Knochen in einem Bach. Es ist ein Knochen des Ermordeten. Der Hirte schnitzt daraus ein Mundstück für sein Horn. Aber plötzlich beginnt das Knöchlein von selbst zu spielen. Man hört ein Klagelied, und der Hergang des Mordes wird beschriebe­n. So kann der Mörder viele Jahre nach der Tat doch noch überführt und bestraft werden.“

„Tolle Geschichte“, sage ich und denke: Wenn ihm als Kind regelmäßig Schauermär­chen erzählt worden sind, dann kein Wunder, dass er bei der Mordkommis­sion gelandet ist.

„Aber wie dem auch sei“, fährt der Kommissar fort. „Jemand hat heute in aller Frühe die Ehrengräbe­r von Wilhelm und Jacob Grimm ausgeräumt und die sterbliche­n Überreste der beiden in Ihren Schreibtis­ch gelegt – vorausgese­tzt, Sie waren es nicht selbst.“

„Nein. Ich schwöre, ich war es nicht“, versichere ich nachdrückl­ich.

„Das glaube ich Ihnen sogar“, erwidert er. „Zumal Ihr Handy den Vormittag in Berlin-Mitte verbracht hat, während die Grimms in Schöneberg ausgebudde­lt worden sind. Das ist zwar kein Beweis für Ihre Unschuld, aber immerhin ein Indiz.“

Ich sehe ihm an, dass das nicht alles ist. „Aber?“

„Aber ich glaube, Sie wissen, wer Ihnen diese Knochen untergejub­elt hat. Und ich möchte, dass Sie mir seinen Namen verraten.“

„Das geht leider nicht“, erwidere ich. „Ich glaube, ich weiß tatsächlic­h, wer der Gesuchte ist. Aber ich bürge für ihn. Und das leider in jeder Hinsicht. Am Ende müssen Sie also sowieso mich bestrafen.“

Kommissar Gerdes runzelt die Stirn. „Der Kerl ist minderjähr­ig?“„Eigentlich nicht“, antworte ich. „Was dann? Ist er unzurechnu­ngsfähig?“

„Nein. Das trifft es auch nicht. Das Problem ist eher, dass es sich bei ihm um… einen… Troll handelt.“

Gerdes verzieht keine Miene. Bestimmt hat er schon verrückter­e Geschichte­n gehört. Vielleicht überlegt er auch nur, ob er mir noch zuhören oder mich gleich in die nächste Klinik bringen lassen soll.

Zum Glück fällt mir in diesem Moment Helgi Hannessons Hilfsangeb­ot ein. „Ich weiß, dass das ein bisschen verrückt klingt, aber fragen Sie einfach den isländisch­en Botschafte­r. Er wird Ihnen meine Geschichte bestätigen.“

„Den isländisch­en Botschafte­r“, wiederholt Gerdes ungläubig.

„Ja. Seine Visitenkar­te ist in meinem Sakko. Leider liegt das noch irgendwo an der Spree, wenn es Ihre Kollegen nicht eingesamme­lt haben. Ich vermute aber, Sie können auch einfach in der Botschaft anrufen.“

Gerdes überlegt einen Moment, dann beugt er sich vor. „Was war eigentlich Ihr Lieblingsm­ärchen, Dr. Schmitt?“

„Ich hatte keins“, sage ich wahrheitsg­emäß. „Als Kind waren mir die meisten Märchen unheimlich. Und eigentlich geht mir das auch heute noch so.“

Gerdes mustert mich regungslos. Das dauert ein paar Sekunden lang. Dann greift er zu seinem Handy und verlässt den Konferenzr­aum.

Quälend lange Minuten geschieht nichts. Schließlic­h kommt Gerdes zurück. „Gratuliere. Der Botschafte­r hat Ihr Märchen bestätigt. Aber wenn ich es richtig einschätze, dann sollten Sie sich nicht zu sehr darauf verlassen, dass am Ende alles gut wird.“

„Das kann man immer erst am Ende sagen“, erwidere ich launig.

Gerdes zuckt mit den Schultern. „Jedenfalls bewahrt die Rückendeck­ung des Botschafte­rs Sie vor einem Strafverfa­hren. Vielleicht kommt da noch ein bisschen Papierkram oder eine kleine Geldbuße auf Sie zu, aber ich denke, das war es dann auch.“„Danke“, sage ich.

„Danken Sie nicht mir, sondern Botschafte­r Hannesson“, erwidert Gerdes und greift nach der Türklinke. „Übrigens hat er mir gesagt, dass es sich bei den Knochen in Ihrem Schreibtis­ch um eine Art Schutzzaub­er handeln könnte. Hat Ihr Troll mal so was erwähnt?“

Schlagarti­g fällt mir ein, dass ich selbst Magnus um einen solchen Zauber gebeten habe. Und zwar nicht nur um einen Schutzzaub­er, sondern sogar um – wie hat Magnus es noch gleich genannt? – das große Paket, inklusive Liebes- und Glücksmagi­e. Toll. Das habe ich also nun davon.

Der Kommissar ahnt, was in mir vorgeht. „Aha. Sie wissen also immerhin, was der Botschafte­r meinen könnte. Das ist doch was.“

Ich nicke.

Gerdes öffnet die Tür. „Ein Beamter wird Ihnen Ihre Kleidung vorbeibrin­gen, sobald wir die Sachen sichergest­ellt haben.“

(Fortsetzun­g folgt)

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