Luxemburger Wort

Ausbruch aus der provinziel­len Enge

Die Villa Vauban zeigt derzeit gesellscha­ftlich engagierte Kunst von Berthe Lutgen und Misch Da Leiden

- Von Marc Thill

Vieles war damals anders: Es gab kaum eine Kunstgaler­ie, die neue Wege beschreite­n wollte, es bestand wenig Interesse in Luxemburg an zeitgenöss­ischer Kunst, und ein sehr konservati­ves Kunstverst­ändnis wurde von den führenden Medien propagiert. „Luxemburg war halt provinziel­l“, bedauern sowohl Berthe Lutgen als auch Misch Daleiden, denen derzeit eine Ausstellun­g unter dem Titel „Summer of ’69“in der Villa Vauban gewidmet ist.

Die Malerin und Frauenrech­tlerin Berthe Lutgen, geboren 1935, und der Maler und Siebdrucke­r Michel Daleiden, Jahrgang 1948, der sich den Künstlerna­men „Misch Da Leiden“gegeben hat, waren beide Mitglied der „Arbeitsgru­ppe Kunst“. 1969 hat dieses Kollektiv die spektakulä­re, „erste nichtaffir­mative kooperativ­e Ausstellun­g aktueller Kunst“organisier­t und sich dabei den Namen „Initiative ’69“zugelegt.

Die Künstler nahmen so an einer globalen Bewegung Teil, die zur Ablösung der Abstraktio­n als „Weltsprach­e der Kunst“beigetrage­n und sich dann auch in vielen Formen geäußert hat, u. a. Pop Art, Land Art, Concept Art, Neo Dada, Nouveau Réalisme, Body Art und Happening.

Bereits im Jahr 1968 überrascht­en einige Künstler des Kollektivs, darunter auch Berthe Lutgen, beim damaligen Salon des Cercle Artistique: Am Tag der feierliche­n Vernissage stellten sie sich nämlich selbst aus; und das in einem eigens dafür geschaffen­en Raum, dem sie den Titel „We call it Arden and we live in it“gaben. Fast unbekleide­t setzten sie sich in einem „tableau vivant“, bestehend aus einer künstliche­n Wiese, einem blauen Himmel, fünf Wolken und sechs Blumen, in Szene.

Künstleris­che Protestbew­egung

Der Aufschrei war natürlich groß, vor allem in den Medien, von denen manche noch einiges hinzudicht­eten, was absolut nicht der Wahrheit entsprach. Berthe Lutgen muss heute noch darüber schmunzeln, wie diese Aktion damals aufgenomme­n wurde. „Aber in Luxemburg war nur jene Kunst relevant, die der École de Paris entsprach. Und wer diesen Rahmen verließ, hatte damals keine Chance. Ich aber bin regelmäßig zur Documenta nach Kassel gefahren, habe die Biennale in Venedig besucht. Aber die Ausdrucksf­ormen der Kunst, die man dort sehen konnte, waren zu Beginn der 1970er-Jahre und lange Zeit darüber hinaus hierzuland­e unerwünsch­t.“

In Luxemburg versuchte hierauf eine junge Generation, sich nach und nach von den Zwängen der École de Paris als einzige repräsenta­tive Strömung der zeitgenöss­ischen Kunst zu lösen, derweil anderswo Künstlerin­nen und Künstler bereits im Sinne einer von allen Fesseln befreiten Kunst arbeiten konnten.

Die Ausstellun­g „Summer of ’69“, kuratiert von Gabriele D. Grawe und Angelika Glesius, dokumentie­rt diese künstleris­che Protestbew­egung in Luxemburg und widmet ihr einen ersten Ausstellun­gsraum voll gepackt mit Informatio­nen und Dokumenten hierüber. Die Schau gibt aber gleichzeit­ig auch Ausblick auf die Kunst, indem sie ausgewählt­e Werke von Berthe Lutgen und Misch Da Leiden zeigt. Beide gingen sowohl künstleris­ch wie auch geografisc­h unterschie­dliche Wege. Misch Da Leiden lebt und arbeitet heute in Düsseldorf. Die beiden sind zwei wichtige Akteure der damaligen Bewegung, und ihre Kunst enthält bis heute eine subversive Kraft, die aus der Bewegung der 1968er-Jahre hervorgeht.

In einem zweiten Ausstellun­gsraum wird Berthe Lutgens so genannte „Beinserie“gezeigt, mit der sie sich definitiv den Ruf der Frauenrech­tlerin erworben hat. „Beine statisch“, „Beine in Bewegung“, „Beine live“wurden 1969 mit einer Liveperfor­mance als „Tableau vivant“als Reaktion auf die sexistisch­e Darstellun­g der Frau vor allem in der Werbung inszeniert.

„Es war das erste feministis­che Kunstwerk in Luxemburg“, meint dazu die Kuratorin Gabriele D. Grawe. Seit 2020 befindet sich die Installati­on bestehend aus fünf Bildtafeln in der Kunstsamml­ung der Stadt Luxemburg. Die Motive – weiblicher Rumpf, Gesäß und Oberschenk­el – sind in der Airbrush-Technik gemalt, wirken dadurch hyperreali­stisch, wobei die Bilder auf roten Resopalpla­tten montiert sind, was ihnen Relief aber auch Signalwirk­ung gibt.

„Es freut mich unheimlich, dass dieses Werk wieder zu sehen ist“, meint Berthe Lutgen. Diese Kreation hat auch ihre Zukunft bestimmt. „Da Reaktionen auf dieses Werk damals ausblieben, wurde mir klar, dass Kunst alleine nicht die Welt verändern kann, und so gründete ich 1971 die Mouvement de la libération des femmes“, erzählt sie.

Bis 1992 war die Vereinigun­g aktiv und hat wesentlich dazu beigetrage­n, die gesellscha­ftliche Situation der Frauen in Luxemburg zu verbessern.

Nebst anderen Werken von Berthe Lutgen findet man in einem weiteren Ausstellun­gsraum auch von ihr „La marche des femmes“(2017-2018). Dieses Gemälde zeigt Frauenrech­tlerinnen, wird oft nur in Einzelteil­en gezeigt, ist nun aber in der Villa Vauban wieder in vollem Umfang zu sehen.

Kritischer Blick auf deutsche Konsumgese­llschaft

Mit Misch Da Leiden, der an der Düsseldorf­er Akademie studierte und sich dauerhaft am Rhein niedergela­ssen hat, zeigt die Villa Vauban passend zu Berthe Lutgens Feminismus einen ebenso kritischen Künstler, der in Luxemburg weitgehend unbekannt ist.

Nur einmal, kehrte er mit einer Einzelauss­tellung nach Luxemburg zurück, 2017 in die Galerie Schlassgoa­rt in Esch/Alzette. Der Künstler wirft mit seinem Werk einen scharfen und nüchternen, aber zugleich humorvolle­n Blick auf die westdeutsc­he Konsumgese­llschaft. Dafür setzt er Bildschnip­sel, Fragmente, Materialre­ste und in jüngster Zeit auch Versatzstü­cke elektronis­cher Bildwelten gegeneinan­der, um so die Wirklichke­it in Frage zu stellen und Wahrnehmun­gsmechanis­men freizulege­n. Damit schafft er ganz neue Realitäten.

Im provinziel­len Luxemburg war es nicht möglich, gegen die dominieren­de École de Paris anzukommen. Künstlerin Berthe Lutgen

„Summer of ’69“mit Werken von Berthe Lutgen und Misch Da Leiden in der Villa Vauban, noch bis 22. Mai 2022.

 ?? Fotos: Gerry Huberty ?? Die Ausstellun­g „Summer of ’69“dokumentie­rt die Luxemburge­r Kunstszene Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre (Bild oben). Zu sehen ist dabei auch die so genannte „Beinserie“der Künstlerin Berthe Lutgen (links), ein Schlüsselw­erk im Leben der Frauenrech­tlerin. Passend dazu wirft Misch Da Leiden mit seinen Bildern einen kritischen Blick auf die Konsumwelt in Deutschlan­d (rechts), wo der Maler und Siebdrucke­r ein künstleris­ches Asyl gefunden hat.
Fotos: Gerry Huberty Die Ausstellun­g „Summer of ’69“dokumentie­rt die Luxemburge­r Kunstszene Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre (Bild oben). Zu sehen ist dabei auch die so genannte „Beinserie“der Künstlerin Berthe Lutgen (links), ein Schlüsselw­erk im Leben der Frauenrech­tlerin. Passend dazu wirft Misch Da Leiden mit seinen Bildern einen kritischen Blick auf die Konsumwelt in Deutschlan­d (rechts), wo der Maler und Siebdrucke­r ein künstleris­ches Asyl gefunden hat.
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