Pandemie verstärkt Ungleichheiten
Bildungsminister Claude Meisch stellt nationalen Bildungsbericht 2021 vor
Der Vorstellung des zweiten nationalen Bildungsberichts 2018 war Claude Meisch (DP) ferngeblieben. Auch bei der Präsentation der Pisa-Ergebnisse im Jahr 2018 war er nicht präsent. Erneut nicht anwesend zu sein, wenn ein wichtiger Bericht zum Luxemburger Schulsystem vorgestellt wird, hätte er sich gar nicht erlauben können. Und so war der Bildungsminister gestern bei der Vorstellung des dritten nationalen Bildungsberichts zusammen mit Wissenschaftlern der Uni Luxemburg mit von der Partie.
Unter dem Motto „Bereit für die Zukunft?“untersucht der Bericht, wie gut oder schlecht das Luxemburger Schulsystem in den Bereichen Digitalisierung und nachhaltige Entwicklung aufgestellt ist, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Diese beiden Bereiche dominierten die gestrige Präsentation zum Nachteil eines dritten und nicht minder wichtigen Themenschwerpunkts: die Bildungsungleichheiten.
Starke Benachteiligungen
Schon im Bildungsbericht 2015 und im Bildungsbericht 2018 wurde festgehalten, dass das Luxemburger Schulsystem Schüler mit einem geringen sozioökonomischen Status und Migrationshintergrund stark benachteiligt. 2015 wurde sogar eine Landkarte veröffentlicht, die veranschaulicht, in welchen Gemeinden der sozioökonomische Status der Familien besonders hoch und in welchen er besonders niedrig ist. Im Zentrum konzentrieren sich die sozial begünstigten Haushalte, während die sozial benachteiligten Haushalte sich überwiegend im Süden und im Norden befinden. Die Karte zeigt, in welchen Regionen des Landes besondere Dringlichkeit besteht.
Heute, sechs Jahre später, besteht mehr Handlungsbedarf denn je. Denn die Untersuchungen zeigen eindeutig, dass die Ungleichheiten über die Jahre gewachsen sind und bestehende Ungleichheiten sich durch die Corona-Pandemie noch verstärkt haben.
Schüler aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen und mit Migrationshintergrund sind deutlich schlechter durch die Krise gekommen und haben weitere Defizite angehäuft, während Schüler aus sozio-ökonomisch gut situierten Familien ihre Leistungen teilweise sogar noch verbessert haben. Das war eine wichtige Schlussfolgerung aus den Ergebnissen der Epreuves standardisées (Epstan), die im November 2020 in der Grundschule in den Zyklen 2.1, 3.1, 4.1, und im Secondaire auf 7e und auf 5e durchgeführt und im vergangenen April vorgestellt worden waren.
Auch der neueste Bildungsbericht kommt zum Schluss, dass die Bildungsungleichheiten zunehmen. In der Einleitung heißt es: „Schülerinnen und Schüler, die zu Hause weder Luxemburgisch noch Deutsch sprechen und aus sozial benachteiligten Familien kommen, haben sich im Vergleich zum letzten Bildungsbericht vor drei Jahren in allen untersuchten Kompetenzbereichen – auch unabhängig von den Folgen der Covid-19-Pandemie – weiter verschlechtert. Damit geht die soziale Schere im luxemburgischen Bildungssystem auseinander, die Leistungsunterschiede zwischen den Schülergruppen wachsen.“
Das Thema Ungleichheiten wurde in der gestrigen Präsentation in knapp drei Minuten abgehandelt. Dabei ging Thomas Lenz,
Koordinator des Bildungsberichts, unter anderem auf die in Luxemburg vergleichsweise stark ausgeprägten Einkommensungleichheiten ein. „Luxemburg ist sprachlich und kulturell diverser geworden, in wirtschaftlicher Hinsicht aber auch ungleicher“, so Thomas Lenz. „Diese wachsenden Unterschiede haben auch Auswirkungen auf die Schule.“Die Pandemie habe die bestehenden Unterschiede weiter verstärkt. „Es sind vor allem die bereits benachteiligten Schüler, die jetzt eine gezielte Unterstützung brauchen.“Alles in allem aber sei Luxemburg gut durch die erste Phase der Krise gekommen.
Die internationalen Schulen
„Das Luxemburger Schulsystem wird der zunehmenden sozialen und kulturellen Diversität der Gesellschaft nicht in einem zufriedenstellenden Maße gerecht“, sagte gestern auch Claude Meisch und führte sogleich die internationalen Schulen ins Feld, als Alternative für alle Schüler, die es im Luxemburger Schulsystem aufgrund ihres sprachlichen Hintergrunds schwer haben.
Als besonders tückisch für Kinder, die keinen luxemburgischen oder deutschen Sprachhintergrund haben, erweist sich die Alphabetisierung auf Deutsch. Im Bericht
heißt es: „Die Alphabetisierungsund Unterrichtssprache Deutsch ist für die meisten Kinder zu Beginn des Zyklus 2 eine Zweitoder Drittsprache, auf die im Zyklus 1 nicht ausreichend vorbereitet wird.“Die Wissenschaftler sehen deshalb die Notwendigkeit, „die deutsche Sprache ab dem ersten Zyklus in die Frühförderung der Kinder einzubeziehen, wenn diese weiter auf Deutsch alphabetisiert werden sollen“. Alternativ wäre auch denkbar, die Alphabetisierungspraxis zu ändern, „so dass Schülerinnen und Schüler sich nach dem Modell der internationalen Schulen für eine Alphabetisierung auf Deutsch oder beispielsweise Französisch entscheiden könnten“.
Man merkt: Die öffentlichen internationalen Schulen – eine siebte öffnet nächstes Jahr in der Hauptstadt ihre Türen – rücken immer stärker in den Fokus, auch im nun vorliegenden Bildungsbericht, der Claude Meischs Politik einer vielfältigen Schullandschaft unterstützt. Die Programme in den öffentlichen internationalen Schulen sollen nun ausgewertet und die Ergebnisse im nächsten Bildungsbericht 2024 ihren Niederschlag finden. Ende 2022 ist Claude Meisch zufolge mit ersten Ergebnissen zu rechnen.
Die niedrigen Fallzahlen werden auch in Zukunft ein Problem bleiben. Antoine Fischbach, Lucet-Direktor
Das Luxemburger Schulsystem wird der zunehmenden sozialen und kulturellen Diversität der Gesellschaft nicht in einem zufriedenstellenden Maße gerecht. Claude Meisch, Bildungsminister
Die Erfahrungswerte aus den internationalen Schulen will er als „Inspiration für das traditionelle Bildungssystem“nutzen und die „Flexibilität im Umgang mit dem Sprachenunterricht und den Unterrichtssprachen“auf das traditionelle Schulsystem übertragen, um es „besser an die sprachliche Diversität unseres Landes anzupassen“. Die Ergebnisse sollen auch in den, laut Claude Meisch, bereits begonnenen „Reflexions- und Diskussionsprozess rund um die Lehrpläne“einfließen.
Interessant ist, dass die Wissenschaftler sich im Bericht immer wieder auf die öffentlichen internationalen Schulen berufen, sie als Modell ins Feld führen, an denen die Regelschulen sich besonders in Bezug auf den Sprachenunterricht orientieren könnten – obwohl die internationalen Schulen von den Epreuves standardisées noch gar nicht erfasst wurden, also keine Ergebnisse zu den Leistungen der Schüler vorliegen, und somit auch kein Vergleich zwischen internationalen und Regelschulen gezogen werden kann.
Blinder Fleck
Thomas Lenz, der den zweiten und jetzt auch den dritten Bildungsbericht koordiniert hat, hatte 2019 im Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“diesen „blinden Fleck“angesprochen und gemeint, dass der nationale Bildungsbericht die Leistungsunterschiede von Schülern mit Migrationshintergrund in den Regelschulen einerseits und in den internationalen Schulen andererseits nicht aufdecke. Die öffentlichen internationalen Schulen würden beim Bildungsbericht 2021 einbezogen.
Gestern hieß es, diese Untersuchung sei erst noch im Aufbau. Die Epreuves standardisées werden erst im kommenden Jahr auf die internationalen Schulen ausgeweitet. Dazu wurde ein Modell mit mehreren Variablen ausgearbeitet, um sicherzustellen, dass die Messung in den internationalen Schulen mit der in den Regelschulen
vergleichbar ist. Ein Problem sind die geringen Fallzahlen in den internationalen Schulen.
Eine knifflige Aufgabe
Deshalb wird, wie Lucet-Direktor Antoine Fischbach erklärte, auf Sprachtests aus internationalen Vergleichsstudien zurückgegriffen, die auf hohen Fallzahlen basieren. Im Frühjahr 2022 soll Fischbach zufolge eine erste Erhebung zum Leseverstehen bei Viertklässlern in den Regel- und öffentlichen internationalen Studien durchgeführt werden (eine Art Mini-Pearls-Studie), um erste Erfahrungen zum Leseverstehen zu sammeln.
„Die niedrigen Fallzahlen aber werden auch in Zukunft ein Problem bleiben“, sagte Fischbach, der dafür plädierte, dass Luxemburg wieder in internationale Studien wie Pearls (Leseverstehen) und PISA einsteigt, um den internationalen Vergleich zu haben – nicht wegen des Rankings, sondern um den „blinden Fleck bei den internationalen Schulen in den Griff zu bekommen“. Luxemburg hat bei der letzten PISA-Erhebung – sie findet alle drei Jahre statt – nicht mitgemacht, 2024 aber wird Luxemburg aller Voraussicht nach wieder dabei sein.
Solange es keine Studien zu den Schülerleistungen in den öffentlichen internationalen Schulen gibt, kann man sie nicht mit den Regelschulen vergleichen. Das scheint verständlich. Nicht zu verstehen aber ist, warum im traditionellen Schulsystem nichts
Luxemburg ist sprachlich und kulturell diverser geworden, in wirtschaftlicher Hinsicht aber auch ungleicher. Thomas Lenz, Koordinator des Bildungsberichts
unternommen wurde, um den seit vielen Jahren bekannten und sich weiter zuspitzenden Ungleichheiten entgegenzuwirken. Punkte wie die Alphabetisierung auf Deutsch oder die bessere Vorbereitung auf den Schriftspracherwerb in der Fremdsprache Deutsch beziehungsweise die Förderung der Deutschkompetenzen in den Grundschule hätte man längst angehen können.
Claude Meisch lässt den Vorwurf, gegen die steigenden Ungleichheiten nichts unternommen zu haben, nicht gelten. Darauf angesprochen ging er gestern erneut auf die geplante Auswertung der internationalen Programme ein, um daraus Erfahrungswerte für die Regelschule abzuleiten. Es gebe aber auch noch andere Instrumente, die helfen würden, die Bildungsungleichheiten zu bekämpfen, wie zum Beispiel das geplante flächendeckende Hausaufgabenhilfeangebot und die seit 2017 bestehende frühkindliche Sprachförderung (Luxemburgisch und Französisch) in den Betreuungseinrichtungen. Die Wirksamkeit dieser Förderung könne man aber erst in ein paar Jahren messen, so der Bildungsminister.
Des Weiteren setzt Claude Meisch auf den Ausgleich durch die Ganztagsschule, die er flächendeckend aufbauen möchte. Damit möglichst viele Kinder das Ganztagsschulangebot nutzen, wird die Betreuung in den Maisons relais ab kommendem Jahr kostenlos sein. „Das sind große strukturelle Änderungen in unserem Schulwesen, die dazu beitragen, die Ungleichheiten abzufedern“, so der Bildungsminister.
Am nationalen Bildungsbericht waren 72 Forscher und Wissenschaftler beteiligt. Der Bericht ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen dem Luxembourg Center for Educational Testing (Lucet) der Uni Luxemburg und dem Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script).