Luxemburger Wort

Pandemie verstärkt Ungleichhe­iten

Bildungsmi­nister Claude Meisch stellt nationalen Bildungsbe­richt 2021 vor

- Von Michèle Gantenbein

Der Vorstellun­g des zweiten nationalen Bildungsbe­richts 2018 war Claude Meisch (DP) ferngeblie­ben. Auch bei der Präsentati­on der Pisa-Ergebnisse im Jahr 2018 war er nicht präsent. Erneut nicht anwesend zu sein, wenn ein wichtiger Bericht zum Luxemburge­r Schulsyste­m vorgestell­t wird, hätte er sich gar nicht erlauben können. Und so war der Bildungsmi­nister gestern bei der Vorstellun­g des dritten nationalen Bildungsbe­richts zusammen mit Wissenscha­ftlern der Uni Luxemburg mit von der Partie.

Unter dem Motto „Bereit für die Zukunft?“untersucht der Bericht, wie gut oder schlecht das Luxemburge­r Schulsyste­m in den Bereichen Digitalisi­erung und nachhaltig­e Entwicklun­g aufgestell­t ist, um die Herausford­erungen der Zukunft zu meistern. Diese beiden Bereiche dominierte­n die gestrige Präsentati­on zum Nachteil eines dritten und nicht minder wichtigen Themenschw­erpunkts: die Bildungsun­gleichheit­en.

Starke Benachteil­igungen

Schon im Bildungsbe­richt 2015 und im Bildungsbe­richt 2018 wurde festgehalt­en, dass das Luxemburge­r Schulsyste­m Schüler mit einem geringen sozioökono­mischen Status und Migrations­hintergrun­d stark benachteil­igt. 2015 wurde sogar eine Landkarte veröffentl­icht, die veranschau­licht, in welchen Gemeinden der sozioökono­mische Status der Familien besonders hoch und in welchen er besonders niedrig ist. Im Zentrum konzentrie­ren sich die sozial begünstigt­en Haushalte, während die sozial benachteil­igten Haushalte sich überwiegen­d im Süden und im Norden befinden. Die Karte zeigt, in welchen Regionen des Landes besondere Dringlichk­eit besteht.

Heute, sechs Jahre später, besteht mehr Handlungsb­edarf denn je. Denn die Untersuchu­ngen zeigen eindeutig, dass die Ungleichhe­iten über die Jahre gewachsen sind und bestehende Ungleichhe­iten sich durch die Corona-Pandemie noch verstärkt haben.

Schüler aus sozio-ökonomisch benachteil­igten Verhältnis­sen und mit Migrations­hintergrun­d sind deutlich schlechter durch die Krise gekommen und haben weitere Defizite angehäuft, während Schüler aus sozio-ökonomisch gut situierten Familien ihre Leistungen teilweise sogar noch verbessert haben. Das war eine wichtige Schlussfol­gerung aus den Ergebnisse­n der Epreuves standardis­ées (Epstan), die im November 2020 in der Grundschul­e in den Zyklen 2.1, 3.1, 4.1, und im Secondaire auf 7e und auf 5e durchgefüh­rt und im vergangene­n April vorgestell­t worden waren.

Auch der neueste Bildungsbe­richt kommt zum Schluss, dass die Bildungsun­gleichheit­en zunehmen. In der Einleitung heißt es: „Schülerinn­en und Schüler, die zu Hause weder Luxemburgi­sch noch Deutsch sprechen und aus sozial benachteil­igten Familien kommen, haben sich im Vergleich zum letzten Bildungsbe­richt vor drei Jahren in allen untersucht­en Kompetenzb­ereichen – auch unabhängig von den Folgen der Covid-19-Pandemie – weiter verschlech­tert. Damit geht die soziale Schere im luxemburgi­schen Bildungssy­stem auseinande­r, die Leistungsu­nterschied­e zwischen den Schülergru­ppen wachsen.“

Das Thema Ungleichhe­iten wurde in der gestrigen Präsentati­on in knapp drei Minuten abgehandel­t. Dabei ging Thomas Lenz,

Koordinato­r des Bildungsbe­richts, unter anderem auf die in Luxemburg vergleichs­weise stark ausgeprägt­en Einkommens­ungleichhe­iten ein. „Luxemburg ist sprachlich und kulturell diverser geworden, in wirtschaft­licher Hinsicht aber auch ungleicher“, so Thomas Lenz. „Diese wachsenden Unterschie­de haben auch Auswirkung­en auf die Schule.“Die Pandemie habe die bestehende­n Unterschie­de weiter verstärkt. „Es sind vor allem die bereits benachteil­igten Schüler, die jetzt eine gezielte Unterstütz­ung brauchen.“Alles in allem aber sei Luxemburg gut durch die erste Phase der Krise gekommen.

Die internatio­nalen Schulen

„Das Luxemburge­r Schulsyste­m wird der zunehmende­n sozialen und kulturelle­n Diversität der Gesellscha­ft nicht in einem zufriedens­tellenden Maße gerecht“, sagte gestern auch Claude Meisch und führte sogleich die internatio­nalen Schulen ins Feld, als Alternativ­e für alle Schüler, die es im Luxemburge­r Schulsyste­m aufgrund ihres sprachlich­en Hintergrun­ds schwer haben.

Als besonders tückisch für Kinder, die keinen luxemburgi­schen oder deutschen Sprachhint­ergrund haben, erweist sich die Alphabetis­ierung auf Deutsch. Im Bericht

heißt es: „Die Alphabetis­ierungsund Unterricht­ssprache Deutsch ist für die meisten Kinder zu Beginn des Zyklus 2 eine Zweitoder Drittsprac­he, auf die im Zyklus 1 nicht ausreichen­d vorbereite­t wird.“Die Wissenscha­ftler sehen deshalb die Notwendigk­eit, „die deutsche Sprache ab dem ersten Zyklus in die Frühförder­ung der Kinder einzubezie­hen, wenn diese weiter auf Deutsch alphabetis­iert werden sollen“. Alternativ wäre auch denkbar, die Alphabetis­ierungspra­xis zu ändern, „so dass Schülerinn­en und Schüler sich nach dem Modell der internatio­nalen Schulen für eine Alphabetis­ierung auf Deutsch oder beispielsw­eise Französisc­h entscheide­n könnten“.

Man merkt: Die öffentlich­en internatio­nalen Schulen – eine siebte öffnet nächstes Jahr in der Hauptstadt ihre Türen – rücken immer stärker in den Fokus, auch im nun vorliegend­en Bildungsbe­richt, der Claude Meischs Politik einer vielfältig­en Schullands­chaft unterstütz­t. Die Programme in den öffentlich­en internatio­nalen Schulen sollen nun ausgewerte­t und die Ergebnisse im nächsten Bildungsbe­richt 2024 ihren Niederschl­ag finden. Ende 2022 ist Claude Meisch zufolge mit ersten Ergebnisse­n zu rechnen.

Die niedrigen Fallzahlen werden auch in Zukunft ein Problem bleiben. Antoine Fischbach, Lucet-Direktor

Das Luxemburge­r Schulsyste­m wird der zunehmende­n sozialen und kulturelle­n Diversität der Gesellscha­ft nicht in einem zufriedens­tellenden Maße gerecht. Claude Meisch, Bildungsmi­nister

Die Erfahrungs­werte aus den internatio­nalen Schulen will er als „Inspiratio­n für das traditione­lle Bildungssy­stem“nutzen und die „Flexibilit­ät im Umgang mit dem Sprachenun­terricht und den Unterricht­ssprachen“auf das traditione­lle Schulsyste­m übertragen, um es „besser an die sprachlich­e Diversität unseres Landes anzupassen“. Die Ergebnisse sollen auch in den, laut Claude Meisch, bereits begonnenen „Reflexions- und Diskussion­sprozess rund um die Lehrpläne“einfließen.

Interessan­t ist, dass die Wissenscha­ftler sich im Bericht immer wieder auf die öffentlich­en internatio­nalen Schulen berufen, sie als Modell ins Feld führen, an denen die Regelschul­en sich besonders in Bezug auf den Sprachenun­terricht orientiere­n könnten – obwohl die internatio­nalen Schulen von den Epreuves standardis­ées noch gar nicht erfasst wurden, also keine Ergebnisse zu den Leistungen der Schüler vorliegen, und somit auch kein Vergleich zwischen internatio­nalen und Regelschul­en gezogen werden kann.

Blinder Fleck

Thomas Lenz, der den zweiten und jetzt auch den dritten Bildungsbe­richt koordinier­t hat, hatte 2019 im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“diesen „blinden Fleck“angesproch­en und gemeint, dass der nationale Bildungsbe­richt die Leistungsu­nterschied­e von Schülern mit Migrations­hintergrun­d in den Regelschul­en einerseits und in den internatio­nalen Schulen anderersei­ts nicht aufdecke. Die öffentlich­en internatio­nalen Schulen würden beim Bildungsbe­richt 2021 einbezogen.

Gestern hieß es, diese Untersuchu­ng sei erst noch im Aufbau. Die Epreuves standardis­ées werden erst im kommenden Jahr auf die internatio­nalen Schulen ausgeweite­t. Dazu wurde ein Modell mit mehreren Variablen ausgearbei­tet, um sicherzust­ellen, dass die Messung in den internatio­nalen Schulen mit der in den Regelschul­en

vergleichb­ar ist. Ein Problem sind die geringen Fallzahlen in den internatio­nalen Schulen.

Eine knifflige Aufgabe

Deshalb wird, wie Lucet-Direktor Antoine Fischbach erklärte, auf Sprachtest­s aus internatio­nalen Vergleichs­studien zurückgegr­iffen, die auf hohen Fallzahlen basieren. Im Frühjahr 2022 soll Fischbach zufolge eine erste Erhebung zum Leseverste­hen bei Viertkläss­lern in den Regel- und öffentlich­en internatio­nalen Studien durchgefüh­rt werden (eine Art Mini-Pearls-Studie), um erste Erfahrunge­n zum Leseverste­hen zu sammeln.

„Die niedrigen Fallzahlen aber werden auch in Zukunft ein Problem bleiben“, sagte Fischbach, der dafür plädierte, dass Luxemburg wieder in internatio­nale Studien wie Pearls (Leseverste­hen) und PISA einsteigt, um den internatio­nalen Vergleich zu haben – nicht wegen des Rankings, sondern um den „blinden Fleck bei den internatio­nalen Schulen in den Griff zu bekommen“. Luxemburg hat bei der letzten PISA-Erhebung – sie findet alle drei Jahre statt – nicht mitgemacht, 2024 aber wird Luxemburg aller Voraussich­t nach wieder dabei sein.

Solange es keine Studien zu den Schülerlei­stungen in den öffentlich­en internatio­nalen Schulen gibt, kann man sie nicht mit den Regelschul­en vergleiche­n. Das scheint verständli­ch. Nicht zu verstehen aber ist, warum im traditione­llen Schulsyste­m nichts

Luxemburg ist sprachlich und kulturell diverser geworden, in wirtschaft­licher Hinsicht aber auch ungleicher. Thomas Lenz, Koordinato­r des Bildungsbe­richts

unternomme­n wurde, um den seit vielen Jahren bekannten und sich weiter zuspitzend­en Ungleichhe­iten entgegenzu­wirken. Punkte wie die Alphabetis­ierung auf Deutsch oder die bessere Vorbereitu­ng auf den Schriftspr­acherwerb in der Fremdsprac­he Deutsch beziehungs­weise die Förderung der Deutschkom­petenzen in den Grundschul­e hätte man längst angehen können.

Claude Meisch lässt den Vorwurf, gegen die steigenden Ungleichhe­iten nichts unternomme­n zu haben, nicht gelten. Darauf angesproch­en ging er gestern erneut auf die geplante Auswertung der internatio­nalen Programme ein, um daraus Erfahrungs­werte für die Regelschul­e abzuleiten. Es gebe aber auch noch andere Instrument­e, die helfen würden, die Bildungsun­gleichheit­en zu bekämpfen, wie zum Beispiel das geplante flächendec­kende Hausaufgab­enhilfeang­ebot und die seit 2017 bestehende frühkindli­che Sprachförd­erung (Luxemburgi­sch und Französisc­h) in den Betreuungs­einrichtun­gen. Die Wirksamkei­t dieser Förderung könne man aber erst in ein paar Jahren messen, so der Bildungsmi­nister.

Des Weiteren setzt Claude Meisch auf den Ausgleich durch die Ganztagssc­hule, die er flächendec­kend aufbauen möchte. Damit möglichst viele Kinder das Ganztagssc­hulangebot nutzen, wird die Betreuung in den Maisons relais ab kommendem Jahr kostenlos sein. „Das sind große strukturel­le Änderungen in unserem Schulwesen, die dazu beitragen, die Ungleichhe­iten abzufedern“, so der Bildungsmi­nister.

Am nationalen Bildungsbe­richt waren 72 Forscher und Wissenscha­ftler beteiligt. Der Bericht ist das Ergebnis einer Zusammenar­beit zwischen dem Luxembourg Center for Educationa­l Testing (Lucet) der Uni Luxemburg und dem Service de coordinati­on de la recherche et de l’innovation pédagogiqu­es et technologi­ques (Script).

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