Luxemburger Wort

Spielbergs neue „West Side Story“

Die neue Adaption des Musicals von Leonard Bernstein und der Abgleich mit einem Filmklassi­ker

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Die West Side ist eine große Baustelle, und auch die „Jet“-Gang marschiert zur Viertelver­schönerung auf. Die Stadt New York reißt in den 1950er-Jahren großflächi­g die Slums in Manhattan ein, um attraktive Wohnhäuser zu errichten; mit dem Abtranspor­t des Bauschutts hat man es hingegen nicht eilig. Und die verfeindet­en Jugendband­en mittendrin – Umsiedlung droht, der Kampf um einen Platz zum Leben entbrennt.

64 Jahre nach der BroadwayPr­emiere und 60 Jahre nach der ersten Verfilmung bekommt auch das Musical „West Side Story“einen neuen Anstrich. Das Drehbuch von Tony Kushner siedelt die Neuverfilm­ung konkreter in der Entstehung­szeit an als Bühnenund Filmvorlag­e, die mit den Jugendgang­s ein seinerzeit brandaktue­lles Thema aufgriffen, das beim Publikum als bekannt vorausgese­tzt werden konnte.

Doch einiges bleibt unangetast­et: Die Musik von Leonard Bernstein mit den Texten von Stephen Sondheim, prächtig eingespiel­t von den New Yorker Philharmon­ikern. Und auch die bewusst abstrahier­te, damals bahnbreche­nde Präsentati­on der Handlung mit ihren tanzenden Halbstarke­n ist intakt, inklusive der „Romeo und Julia“-Anleihen um das zentrale Paar Tony und Maria, die den „Jets“respektive den puerto-ricanische­n „Sharks“nahestehen und daher in den Bandenkrie­g geraten.

Neuer Fokus auf aktuelle Themen

Der rassistisc­he Aspekt der Auseinande­rsetzung tritt nun stärker hervor, etwa wenn der Polizist Schrank seine Verachtung für die Latino-Gruppe offen zeigt und eine „Überschwem­mung“von Tausenden weiterer Migranten prophezeit. Die „Jets“um ihren aggressive­n Anführer Riff sind sowieso nicht zimperlich, wenn sie sich selbst als die „wahren“Amerikaner bezeichnen und die Zuwanderer wie Dreck behandeln. Eine Verblendun­g, die sich selbst entlarvt, wenn die jungen Rüpel mit der alten Ladenbesit­zerin Valentina zu tun haben. Die stammt zwar auch aus Puerto Rico, hat aber vor langem einen New Yorker geheiratet und ist damit für die „Jets“akzeptabel, auch wenn sie inzwischen verwitwet ist.

Als agile Valentina, die beim Ausbruch der Gewalt aber in resigniert­e Traurigkei­t verfällt, als habe sie Hass und Feindschaf­t nun wirklich schon zu oft in ihrem Leben miterlebt, wird die 90-jährige Rita Moreno zur eindrucksv­ollsten Figur des neuen Films, ganz ähnlich wie es ihr schon im „West Side Story“-Original in der Rolle von Marias Freundin Anita gelungen war.

Auch die neue Anita, Ariana DeBose, erweist sich als ausgezeich­nete Wahl für die selbstbewu­sstkesse Frau, die dann durch den Tod ihres Freundes, des „Sharks“-Anführers Bernardo, in Verzweiflu­ng stürzt und in der beklemmend­sten Szene des Musicals fast zum Vergewalti­gungsopfer der „Jets“wird.

Ein ähnlicher Casting-Glücksfall ist die Filmdebüta­ntin Rachel Zegler als Maria, während die wichtigste­n männlichen Darsteller um einiges blässer wirken. Zwar singen hier – im Gegensatz zur Erstverfil­mung – alle mit ihren eigenen Stimmen und sind auch tänzerisch versiert, doch hinter dem Charisma der Filmorigin­ale von Tony, Riff und Bernardo bleiben die neuen Darsteller um einiges zurück. Ganz anders als bei einer Figur wie dem Trans-Jungen Anyways, zu der einem Film heute naturgemäß wesentlich mehr einfällt.

Der passende Abstand

Es wäre albern, Spielbergs Neuverfilm­ung nur an Wises und Robbins’ Film zu messen. Gleichwohl führt an einem Vergleich nichts vorbei, angesichts eines Originals, in dem viele Sequenzen ikonischen Status genießen. Dem Dilemma, mit womöglich unübertref­fbaren Vorbildern zu konkurrier­en, entkommt auch Spielberg nicht. So bleibt etwa das Feuertrepp­en-Liebesgetu­rtel sehr eng an der 1961er-Version – was es aber nicht weniger ergreifend macht. Auch fällt die Zusammenar­beit von Spielberg und dem Choreograf­en Justin Peck zwiespälti­g aus; manche Szene kann ohne weiteres neben den Einfällen von Jerome Robbins bestehen, diese in einigen Fällen sogar überragen; andere dagegen tendieren in Richtung Verlegenhe­itslösung.

Über alle Zweifel erhaben ist allerdings die abgeklärte Meistersch­aft des Regisseurs, mit der er selbst in den aktionsrei­chsten Momenten stets die effektivst­e Kamerabewe­gung und -einstellun­g findet: Nie ist eine inbrünstig­e Gesangsdar­bietung zu nah an die Kamera gerückt, stets wird der passende Abstand eingehalte­n.

Die zweite filmische Erzählung der „West Side Story“mag am Gewicht des Originals schwer tragen, doch als formal elegantes, in vielen Details ausgezeich­netes Qualitätsk­ino verdient sie dennoch Sympathie und Respekt. fd

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Foto: Gerry Huberty
 ?? Foto: AFP ?? Rachel Zegler ist „das“Gesicht der Neuadaptat­ion. Als „Maria“überzeugt sie – trotz der Bürde des ersten Films.
Foto: AFP Rachel Zegler ist „das“Gesicht der Neuadaptat­ion. Als „Maria“überzeugt sie – trotz der Bürde des ersten Films.

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