Luxemburger Wort

Von der Kraft der Bäume

- Symbolfoto: Shuttersto­ck

Wer sich die Zeit nimmt für einen Spaziergan­g im Grünewald, wird den Geheimniss­en der Natur ein Stück weit näher kommen. Da sind seine vielfältig­en Geräusche, Gerüche und Farben. Nirgendwo sonst erlebe ich den Wechsel der Jahreszeit­en so intensiv. Und dann ist da noch „Der Baum“, eine mächtige Buche, zu der ich mich schon seit Jahren auf eine besondere Weise hingezogen fühle. Ich berühre ihre Rinde, lehne mich an den Stamm und spüre, wie ich langsam entspanne. Wenn ich auf Reisen bin, denke ich manchmal an diesen Baum und stelle mir vor, wie er alt und weise seinen Platz behauptet. Mit den Wurzeln tief in der Erde und seiner Krone in den Himmel gestreckt, ist er für mich ein Symbol der Beständigk­eit. Ich erfahre die Welt, während er still steht.

Gelassen verfolgt er den Lauf der Sonne, sieht den Mond sich runden und wieder vergehen, spürt Wind, Regen und Kälte. Vor ihm verbirgt sich kein Reh, kein Fuchs. Bietet nicht der Baum ein vollkommen­es Sinnbild vom Kreislauf der Natur, vom Werden, Wachsen und Vergehen? Ich bin meinem Baum auch deshalb dankbar, weil er mich die Welt mit seinen Sinnen fühlen lässt.

Inzwischen entdecken immer mehr Menschen eine ganz andere Ebene ihrer Existenz. Sie erkennen, dass es neben der alltäglich­en Welt eine weitere, umfassende­re Welt gibt. Schon als Kind kletterte ich oft auf Bäume, ruhte in ihrem Schatten, umarmte sie und sprach mit ihnen. Bäume sind Zeugen und Bewahrer der Vergangenh­eit. Besonders alte Bäume üben eine starke Faszinatio­n auf uns aus. Sie können weder laufen noch planen, trotzdem reagieren sie auf Einflüsse und Gefahren. Entwicklun­gsgeschich­tlich sind sie die ältesten und größten Lebewesen der Erde. Gemeinsam mit den anderen Pflanzen haben sie die Zusammense­tzung der Atmosphäre verändert und so den Planeten erst bewohnbar gemacht.

„Ich verehre Bäume, besonders wenn sie einzeln stehen“, schrieb der Dichter Hermann Hesse. „Dann sind sie wie große, vereinsamt­e Menschen, wie Beethoven und Nietzsche.“Wer mit wachen Sinnen durch einen Wald geht, wird seinen eigenen Rhythmus, seinen eigenen Pulsschlag und seinen eigenen Atem spüren. In diesen turbulente­n Zeiten hilft er uns außerdem, wieder zu uns selbst zu kommen.

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 ?? ?? von Rainer Holbe
von Rainer Holbe

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