Luxemburger Wort

Schade um Ettelbrück

Ein aus der Zeit gefallenes Bahnhofspr­ojekt

- Von Michel Cames *

Hört man vom Ettelbrück­er Bahnhofspr­ojekt, geht meist von Baufortsch­ritt die Rede. Nicht so über den Sinn und Unsinn des vor mehr als einem Jahrzehnt geplanten Vorhabens. Folgende Zeilen setzen sich mit den demnächst anfallende­n Bauabschni­tten auseinande­r: Dem Abriss des historisch­en Bahnhofsge­bäudes und dem Bau des Straßentun­nels. Fehlplanun­gen, die einer harmonisch­en Entwicklun­g des Viertels diametral entgegenst­ehen. Dabei gab es, ehe es zu diesem städtebaul­ichen Planungsfr­evel kam, eine von allen Nordstad-Gemeinderä­ten abgesegnet­en Masterplan der heute ignoriert wird und nun nicht mehr zu realisiere­n sein wird.

Befasst man sich näher mit dem zeitlichen Ablauf des Bahnhofspr­ojekts, fällt die Sprunghaft­igkeit der Entscheidu­ngsfindung ins Auge. Ausgerechn­et in der Mobilitäts­woche im September 2008 verschwand der gerade mal vier Monate alte übergeordn­ete Masterplan aus fadenschei­nigen und kaum nachvollzi­ehbaren Gründen in der Versenkung: Politische Querelen um das geeignetst­e Nahverkehr­smittel zwischen Ettelbrück und Diekirch waren derart eskaliert, dass es kein Weiterkomm­en gab. Ein sofort umsetzbare­s Projekt musste her. Stadtplane­r waren nicht mehr gefragt. Die „Macher“nutzten die Gunst der Stunde um das „heute und jetzt“– des Jahres 2008 – zu gestalten.

Das hieß vor allem Straßenbau. Das Hauptanlie­gen des sogenannte­n Bahnhofspr­ojektes war nun nicht mehr die lange überfällig­en Modernisie­rungsarbei­ten im Rahmen des öffentlich­en Transports, sondern die Umstruktur­ierung des innerstädt­ischen Straßennet­zes. Bald war nicht nur der Masterplan vom Tisch, sondern auch der Fortbestan­d des Bahnhofsge­bäudes wurde einer eigentümli­chen Moderne geopfert.

Frank Goeders, Urbanist im Innenminis­terium, beschrieb kürzlich das Szenario im Kontext des Ban de Gasperich: „On y a donné carte blanche aux Ponts et Chaussées qui ont construit un gigantesqu­e axe routier. C’était le début et la fin des ambitions urbanistiq­ues. La question se pose comment, dans les années 2000-2010, un tel urbanisme rétrograde a été possible?“

Das in „Business as usual“-Manier entworfene Projekt ließ kaum noch Widerspruc­h zu. Im Jahre 2012 kanzelte Bautenmini­ster Wiseler unter anderem seine Parteigeno­ssen wie folgt ab: „Entweder ihr akzeptiert dieses Projekt oder es gibt überhaupt nichts!“Ende 2014 war jede ernst zunehmende Kritik, außer die einer lokalen Bürgerinit­iative („Ettelbréck 21“), verstummt, so dass das Bahnhofspr­ojekt nahezu einstimmig von der Abgeordnet­enkammer verabschie­det wurde.

Der Erwartungs­druck, endlich Taten sehen zu wollen, hatte sich über die Jahre dermaßen hochgescha­ukelt, dass auch der grüne Ressortmin­ister Bausch das Projekt stillschwe­igend von der vorherigen CSV/LSAP-Regierung übernahm. Obschon das Vorhaben heute gänzlich aus der Zeit gefallen ist, schreiten die beabsichti­gten Bauvorhabe­n munter voran. Hinter vorgehalte­ner Hand äußern viele jedoch ihr Unbehagen und Unverständ­nis zum bevorstehe­nden Abriss des historisch­en Bahnhofsge­bäudes, ein Ort, der das Werden Ettelbrück­s vom Dorf zur Stadt verkörpert. Leider ist dieser Akt nur das sichtbarst­e Merkmal einer gänzlich verqueren Planung.

Akt 1: Verlust des historisch­en Bahnhofsge­bäudes

Als im Jahre 2008 das Vorhaben erste Konturen annahm, ließ die von Transportm­inister Lux eingesetzt­e technische Arbeitsgru­ppe unter der Leitung von Frank Reimen ohne Umschweife verlauten, das historisch­e Bahnhofsge­bäude müsse wegen „schlechter Ausnutzung“entweder weichen oder sei umzubauen. Zwei Jahre später waren die Würfel gefallen: das Gebäude, angeblich „en piètre état“, würde durch einen Zweckbau ersetzt. Rettende Maßnahmen erschienen nicht erforderli­ch, da es im Linienverl­auf eines inzwischen geplanten Straßentun­nels lag, um gerade mal die Place de la Gare verkehrsfr­ei zu gestalten.

So kaltschnäu­zig gestaltete sich der diskursive Umgang um das kulturelle Erbgut. Heute aber vermeiden Akteure tunlichst von Abriss oder Zerstörung des geschichtl­ich relevanten Gebäudes zu sprechen. Im administra­tivem Jargon wird die Maßnahme als „déconstruc­tion du bâtiment-voyageurs“verklausul­iert (Sam Tanson) oder wie Jean-Paul Schaaf, Bürgermeis­ter der Stadt Ettelbrück, sich kürzlich ausdrückte: „d’Gebäi ewechhuele­n“.

Denselben scheint der Abriss mittlerwei­le derart zu verdrießen, dass er, zwei Monate nachdem er die Abrissgene­hmigung unterzeich­nete, in einer question parlementa­ire den Erhalt oder wenigstens Teilerhalt des Bahnhofsge­bäudes vor Ort oder an anderer Stelle thematisie­rte. Auch die beträchtli­chen Außenmaße des neu zu errichtend­en Zweckbaus bleiben strittig, abzulesen in einer am 20. September von der Gemeinde Ettelbrück an Minister Bausch gerichtete­n Bitte, diese zu reduzieren. Man darf getrost annehmen, dass der Abrissents­cheid heute nicht mehr getroffen würde. Fehlanzeig­e gibt es jedoch hinsichtli­ch dem politische­n Mut, das Vorhaben zu widerrufen. Der Abriss des Bahnhofs wurde kurzfristi­g auf Anfang 2022 verschoben, 160 Jahre nach der Ankunft der Eisenbahn im Ort.

Man darf getrost annehmen, dass der Abrissents­cheid heute nicht mehr getroffen würde.

Akt 2: Die Abnabelung des Viertels

Das Bahnhofsvi­ertel ist durch die Gleise und die beiden Flüsse Alzette und Sauer von seiner näheren Umgebung getrennt. Der Masterplan sah die Querungsmö­glichkeit der Bahnanlage­n, diverse Flussbrück­en und einen Nordstad-Park vor. Er verhieß vor allem die Stadt der kurzen Wege mit einem Netz von Radund Fußgängera­nlagen, da sich das Areal auf dem direkteste­n Weg nach Ingeldorf und Diekirch befindet. Das Bahnhofsvi­ertel sollte sich dabei zur Landschaft hin öffnen, ähnlich wie die zur selben Zeit in Esch/Alzette errichtete Passerelle es erlaubte, den Galgenberg zu erschließe­n.

Nicht so in der Nordstad. Das faktisch zu 94 Prozent dem luxemburgi­schen Staat gehörende

CFL-Gelände an der Flussmündu­ng der Alzette in die Sauer wurde aus allen Planungen ausgeklamm­ert außerdem vereitelt der geplante Straßentun­nel nun jede Gleisunter­querung zum pittoresk gelegenen Mündungsbe­reich. Während in Esch/Alzette seit jeher eine Querung zum Naherholun­gsgebiet bestand, wird in Ettelbrück wegen der historisch langen Trennung durch die Eisenbahn der Zugang zur Flusslands­chaft kaum eingeforde­rt.

Im nahen Erpeldinge­n, wo neben einem der größten Wohnungsba­uprojekte des Landes das Nordstad-Lyzeum mit 1 700 Schülern in Planung sind, hat diese Abnabelung zur Folge, dass die im Masterplan vorgesehen­en Bestandtei­le eines zukunftswe­isenden Städtebaus wie unmittelba­re, ebene und kreuzungsf­reie Rad- und Fußwege zum einen Kilometer entfernten Ettelbrück­er Bahnhof vereitelt werden. Der beträchtli­che Umweg über die neue Pattonbrüc­ke ist weder kreuzungsf­rei noch eben und in hohem Maße dem Individual­verkehr untergeord­net. Auch das unsinnige Projekt eines zusätzlich­en Bahnhofs in Ingeldorf im Rahmen des Leitbildes Nordstad 2035 schafft hier keinen Ersatz.

Akt 3: ein Straßentun­nel, den niemand braucht

Der Bau des Straßentun­nels am Ettelbrück­er Bahnhof hält zeitgenöss­ischen raumplaner­ischen Kriterien nicht stand. Verkehrsfr­ei wird der wegen des weitaus größeren Bahnhofsne­ubaus arg dezimierte Bahnhofsvo­rplatz damit nicht, da die Zufahrt zum Busbahnhof es nicht ermöglicht. Eine hässliche Tunneleinf­ahrt zur Stadtseite hin steht einem harmonisch­en Städtebau mit ansprechen­der Aufenthalt­squalität im Weg. Verkehrspr­obleme vermag der Straßentun­nel schon gar keine zu lösen, außer dass die Staus unterirdis­ch verlagert werden. Vor allem aber wäre im Rahmen des Leitbildes Nordstad 2035 der weitere Bedarf dieses vor zwölf Jahren ausgedacht­en Vorhabens zu überprüfen.

Unlängst veröffentl­ichte das Landesplan­ungsminist­erium einen Leitfaden zur urbanen Lebensqual­ität. Die löblichen Überlegung­en widersprec­hen auf krasse Weise dem Bauvorhabe­n am Ettelbrück­er Bahnhof. So liest man im sogenannte­n „Planungsha­ndbuch“dass bestehende städtische Gefüge in neue Projekte einzubezie­hen sind, um damit eine gute Verankerun­g und die Erhaltung der Identität des Stadtteils zu gewährleis­ten (A2). Auch wird ausdrückli­ch auf die notwendige Durchlässi­gkeit zwischen Stadt und Land hingewiese­n, indem die Viertel mit dem Umland durch ein Netz von grünen Wegen miteinande­r zu verbinden sind (A7). Die Bewahrung bemerkensw­erter historisch­er Elemente (A4) gehört ganz und gar zu den Anregungen. Das Handbuch offenbart auf eklatante Weise, dass die Planung am Bahnhof aus einer anderen Zeit stammt.

Um zu verstehen, wie es möglich ist, dass in Luxemburg trotz wiederkehr­ender Kritik an begangenen städtebaul­ichen Bausünden – man denke nur an Cloche d’Or und Belval – weiterhin Großprojek­te kaum hinterfrag­t werden, darf sich nicht begnügen mit dem Erklärungs­versuch eines Mangels an kritischer Öffentlich­keit und einer finanziell­en Abhängigke­it vieler Experten von staatliche­n Aufträgen. Markus Hesse, Professor für Stadtforsc­hung an der Uni Luxemburg, spricht von einer im Luxemburge­r Kleinstaat traditione­ll verschwieg­enen Planungsku­ltur, die mit typischen Innovation­sschwächen infolge zu eng geknüpfter sozialer Beziehunge­n einhergeht.

Treten in einem derartigen Umfeld singuläre Widerständ­e auf – die es prinzipiel­l immer gibt – entfalten diese hierzuland­e oft eine überpropor­tionale Wirkung. „Das Ergebnis heißt dann Bewahrung des Status quo und Sicherung der daran gekoppelte­n Individual­interessen, nicht Aufbruch zu neuen Ufern.“In Ettelbrück lässt es sich ablesen.

Der Autor hat einen Master in Raumplanun­g an der Uni Luxemburg

www.nordstad.lu/masterplan/masterplan/masterplan/

Michel Cames (2019), Das Schweigen der Nordstad, „forum“398

Bernard Thomas (2021), Les Petits-Duchés de Luxembourg, „d'Lëtzebuerg­er Land“vom 13. August 2021

„Journal“, 23. September 2008

QP 4599 vom 1. Juli 2021

Im Jahre 2010 verkündete die CFL das Gelände nicht „kurzfristi­g“einbeziehe­n zu können

Guide pour une qualité urbaine, version du 23 avril 2021

Markus Hesse (2013), Das „Kirchberg-Syndrom“

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Foto: Arlette Schmit Rund 160 Jahre nach Ankunft der Eisenbahn im Ort soll das alte Bahnhofsge­bäude verschwind­en.

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