Schade um Ettelbrück
Ein aus der Zeit gefallenes Bahnhofsprojekt
Hört man vom Ettelbrücker Bahnhofsprojekt, geht meist von Baufortschritt die Rede. Nicht so über den Sinn und Unsinn des vor mehr als einem Jahrzehnt geplanten Vorhabens. Folgende Zeilen setzen sich mit den demnächst anfallenden Bauabschnitten auseinander: Dem Abriss des historischen Bahnhofsgebäudes und dem Bau des Straßentunnels. Fehlplanungen, die einer harmonischen Entwicklung des Viertels diametral entgegenstehen. Dabei gab es, ehe es zu diesem städtebaulichen Planungsfrevel kam, eine von allen Nordstad-Gemeinderäten abgesegneten Masterplan der heute ignoriert wird und nun nicht mehr zu realisieren sein wird.
Befasst man sich näher mit dem zeitlichen Ablauf des Bahnhofsprojekts, fällt die Sprunghaftigkeit der Entscheidungsfindung ins Auge. Ausgerechnet in der Mobilitätswoche im September 2008 verschwand der gerade mal vier Monate alte übergeordnete Masterplan aus fadenscheinigen und kaum nachvollziehbaren Gründen in der Versenkung: Politische Querelen um das geeignetste Nahverkehrsmittel zwischen Ettelbrück und Diekirch waren derart eskaliert, dass es kein Weiterkommen gab. Ein sofort umsetzbares Projekt musste her. Stadtplaner waren nicht mehr gefragt. Die „Macher“nutzten die Gunst der Stunde um das „heute und jetzt“– des Jahres 2008 – zu gestalten.
Das hieß vor allem Straßenbau. Das Hauptanliegen des sogenannten Bahnhofsprojektes war nun nicht mehr die lange überfälligen Modernisierungsarbeiten im Rahmen des öffentlichen Transports, sondern die Umstrukturierung des innerstädtischen Straßennetzes. Bald war nicht nur der Masterplan vom Tisch, sondern auch der Fortbestand des Bahnhofsgebäudes wurde einer eigentümlichen Moderne geopfert.
Frank Goeders, Urbanist im Innenministerium, beschrieb kürzlich das Szenario im Kontext des Ban de Gasperich: „On y a donné carte blanche aux Ponts et Chaussées qui ont construit un gigantesque axe routier. C’était le début et la fin des ambitions urbanistiques. La question se pose comment, dans les années 2000-2010, un tel urbanisme rétrograde a été possible?“
Das in „Business as usual“-Manier entworfene Projekt ließ kaum noch Widerspruch zu. Im Jahre 2012 kanzelte Bautenminister Wiseler unter anderem seine Parteigenossen wie folgt ab: „Entweder ihr akzeptiert dieses Projekt oder es gibt überhaupt nichts!“Ende 2014 war jede ernst zunehmende Kritik, außer die einer lokalen Bürgerinitiative („Ettelbréck 21“), verstummt, so dass das Bahnhofsprojekt nahezu einstimmig von der Abgeordnetenkammer verabschiedet wurde.
Der Erwartungsdruck, endlich Taten sehen zu wollen, hatte sich über die Jahre dermaßen hochgeschaukelt, dass auch der grüne Ressortminister Bausch das Projekt stillschweigend von der vorherigen CSV/LSAP-Regierung übernahm. Obschon das Vorhaben heute gänzlich aus der Zeit gefallen ist, schreiten die beabsichtigten Bauvorhaben munter voran. Hinter vorgehaltener Hand äußern viele jedoch ihr Unbehagen und Unverständnis zum bevorstehenden Abriss des historischen Bahnhofsgebäudes, ein Ort, der das Werden Ettelbrücks vom Dorf zur Stadt verkörpert. Leider ist dieser Akt nur das sichtbarste Merkmal einer gänzlich verqueren Planung.
Akt 1: Verlust des historischen Bahnhofsgebäudes
Als im Jahre 2008 das Vorhaben erste Konturen annahm, ließ die von Transportminister Lux eingesetzte technische Arbeitsgruppe unter der Leitung von Frank Reimen ohne Umschweife verlauten, das historische Bahnhofsgebäude müsse wegen „schlechter Ausnutzung“entweder weichen oder sei umzubauen. Zwei Jahre später waren die Würfel gefallen: das Gebäude, angeblich „en piètre état“, würde durch einen Zweckbau ersetzt. Rettende Maßnahmen erschienen nicht erforderlich, da es im Linienverlauf eines inzwischen geplanten Straßentunnels lag, um gerade mal die Place de la Gare verkehrsfrei zu gestalten.
So kaltschnäuzig gestaltete sich der diskursive Umgang um das kulturelle Erbgut. Heute aber vermeiden Akteure tunlichst von Abriss oder Zerstörung des geschichtlich relevanten Gebäudes zu sprechen. Im administrativem Jargon wird die Maßnahme als „déconstruction du bâtiment-voyageurs“verklausuliert (Sam Tanson) oder wie Jean-Paul Schaaf, Bürgermeister der Stadt Ettelbrück, sich kürzlich ausdrückte: „d’Gebäi ewechhuelen“.
Denselben scheint der Abriss mittlerweile derart zu verdrießen, dass er, zwei Monate nachdem er die Abrissgenehmigung unterzeichnete, in einer question parlementaire den Erhalt oder wenigstens Teilerhalt des Bahnhofsgebäudes vor Ort oder an anderer Stelle thematisierte. Auch die beträchtlichen Außenmaße des neu zu errichtenden Zweckbaus bleiben strittig, abzulesen in einer am 20. September von der Gemeinde Ettelbrück an Minister Bausch gerichteten Bitte, diese zu reduzieren. Man darf getrost annehmen, dass der Abrissentscheid heute nicht mehr getroffen würde. Fehlanzeige gibt es jedoch hinsichtlich dem politischen Mut, das Vorhaben zu widerrufen. Der Abriss des Bahnhofs wurde kurzfristig auf Anfang 2022 verschoben, 160 Jahre nach der Ankunft der Eisenbahn im Ort.
Man darf getrost annehmen, dass der Abrissentscheid heute nicht mehr getroffen würde.
Akt 2: Die Abnabelung des Viertels
Das Bahnhofsviertel ist durch die Gleise und die beiden Flüsse Alzette und Sauer von seiner näheren Umgebung getrennt. Der Masterplan sah die Querungsmöglichkeit der Bahnanlagen, diverse Flussbrücken und einen Nordstad-Park vor. Er verhieß vor allem die Stadt der kurzen Wege mit einem Netz von Radund Fußgängeranlagen, da sich das Areal auf dem direktesten Weg nach Ingeldorf und Diekirch befindet. Das Bahnhofsviertel sollte sich dabei zur Landschaft hin öffnen, ähnlich wie die zur selben Zeit in Esch/Alzette errichtete Passerelle es erlaubte, den Galgenberg zu erschließen.
Nicht so in der Nordstad. Das faktisch zu 94 Prozent dem luxemburgischen Staat gehörende
CFL-Gelände an der Flussmündung der Alzette in die Sauer wurde aus allen Planungen ausgeklammert außerdem vereitelt der geplante Straßentunnel nun jede Gleisunterquerung zum pittoresk gelegenen Mündungsbereich. Während in Esch/Alzette seit jeher eine Querung zum Naherholungsgebiet bestand, wird in Ettelbrück wegen der historisch langen Trennung durch die Eisenbahn der Zugang zur Flusslandschaft kaum eingefordert.
Im nahen Erpeldingen, wo neben einem der größten Wohnungsbauprojekte des Landes das Nordstad-Lyzeum mit 1 700 Schülern in Planung sind, hat diese Abnabelung zur Folge, dass die im Masterplan vorgesehenen Bestandteile eines zukunftsweisenden Städtebaus wie unmittelbare, ebene und kreuzungsfreie Rad- und Fußwege zum einen Kilometer entfernten Ettelbrücker Bahnhof vereitelt werden. Der beträchtliche Umweg über die neue Pattonbrücke ist weder kreuzungsfrei noch eben und in hohem Maße dem Individualverkehr untergeordnet. Auch das unsinnige Projekt eines zusätzlichen Bahnhofs in Ingeldorf im Rahmen des Leitbildes Nordstad 2035 schafft hier keinen Ersatz.
Akt 3: ein Straßentunnel, den niemand braucht
Der Bau des Straßentunnels am Ettelbrücker Bahnhof hält zeitgenössischen raumplanerischen Kriterien nicht stand. Verkehrsfrei wird der wegen des weitaus größeren Bahnhofsneubaus arg dezimierte Bahnhofsvorplatz damit nicht, da die Zufahrt zum Busbahnhof es nicht ermöglicht. Eine hässliche Tunneleinfahrt zur Stadtseite hin steht einem harmonischen Städtebau mit ansprechender Aufenthaltsqualität im Weg. Verkehrsprobleme vermag der Straßentunnel schon gar keine zu lösen, außer dass die Staus unterirdisch verlagert werden. Vor allem aber wäre im Rahmen des Leitbildes Nordstad 2035 der weitere Bedarf dieses vor zwölf Jahren ausgedachten Vorhabens zu überprüfen.
Unlängst veröffentlichte das Landesplanungsministerium einen Leitfaden zur urbanen Lebensqualität. Die löblichen Überlegungen widersprechen auf krasse Weise dem Bauvorhaben am Ettelbrücker Bahnhof. So liest man im sogenannten „Planungshandbuch“dass bestehende städtische Gefüge in neue Projekte einzubeziehen sind, um damit eine gute Verankerung und die Erhaltung der Identität des Stadtteils zu gewährleisten (A2). Auch wird ausdrücklich auf die notwendige Durchlässigkeit zwischen Stadt und Land hingewiesen, indem die Viertel mit dem Umland durch ein Netz von grünen Wegen miteinander zu verbinden sind (A7). Die Bewahrung bemerkenswerter historischer Elemente (A4) gehört ganz und gar zu den Anregungen. Das Handbuch offenbart auf eklatante Weise, dass die Planung am Bahnhof aus einer anderen Zeit stammt.
Um zu verstehen, wie es möglich ist, dass in Luxemburg trotz wiederkehrender Kritik an begangenen städtebaulichen Bausünden – man denke nur an Cloche d’Or und Belval – weiterhin Großprojekte kaum hinterfragt werden, darf sich nicht begnügen mit dem Erklärungsversuch eines Mangels an kritischer Öffentlichkeit und einer finanziellen Abhängigkeit vieler Experten von staatlichen Aufträgen. Markus Hesse, Professor für Stadtforschung an der Uni Luxemburg, spricht von einer im Luxemburger Kleinstaat traditionell verschwiegenen Planungskultur, die mit typischen Innovationsschwächen infolge zu eng geknüpfter sozialer Beziehungen einhergeht.
Treten in einem derartigen Umfeld singuläre Widerstände auf – die es prinzipiell immer gibt – entfalten diese hierzulande oft eine überproportionale Wirkung. „Das Ergebnis heißt dann Bewahrung des Status quo und Sicherung der daran gekoppelten Individualinteressen, nicht Aufbruch zu neuen Ufern.“In Ettelbrück lässt es sich ablesen.
Der Autor hat einen Master in Raumplanung an der Uni Luxemburg
www.nordstad.lu/masterplan/masterplan/masterplan/
Michel Cames (2019), Das Schweigen der Nordstad, „forum“398
Bernard Thomas (2021), Les Petits-Duchés de Luxembourg, „d'Lëtzebuerger Land“vom 13. August 2021
„Journal“, 23. September 2008
QP 4599 vom 1. Juli 2021
Im Jahre 2010 verkündete die CFL das Gelände nicht „kurzfristig“einbeziehen zu können
Guide pour une qualité urbaine, version du 23 avril 2021
Markus Hesse (2013), Das „Kirchberg-Syndrom“