Luxemburger Wort

Im Kern ein Geheimnis

„Was machen die Gefühle mit uns?“, fragt Elizabeth Strout in ihrem Roman „Oh William“

- Von Peter Mohr

Es gibt handlungsa­rme Romane, in denen nicht viel geschieht, die aber dennoch fesseln, weil sie den Leser auf der emotionale­n Ebene gefangen nehmen. Dies ist auch die große Kunst der 65-jährigen Amerikaner­in Elizabeth Strout, die schon für ihren 1998 erschienen­en Erstling „Amy und Isabelle“preisgekrö­nt wurde, die später viele Jahre als Dozentin für kreatives Schreiben tätig war und 2009 für ihren Roman „Olive Kitteridge“(deutsch: „Mit Blick aufs Meer“) den Pulitzer-Preis erhalten hat.

Der Einstieg in den Roman klingt wenig aufregend und hat dennoch programmat­ischen Charakter: „Ich muss noch etwas über meinen ersten Mann sagen, William.“Einfach sagen, inne halten, die Gedanken kreisen lassen, die Gefühle sortieren und behutsam eine Lebensbila­nz ziehen.

Protagonis­tin Lucy Barton, die wir bereits aus dem Roman „Die Unvollkomm­enheit der Liebe“(2016) kennen, war 20 Jahre mit William verheirate­t, hat die sechzig überschrit­ten und muss den Tod ihres zweiten Ehemannes David verarbeite­n. Schriftste­llerin Lucy sucht sich (als sei es vollkommen

Elizabeth Strout kreist bedächtig die Lebenswege ihrer beiden Hauptfigur­en ein. selbstvers­tändlich) ihren „Ex“William als „Krisenhelf­er“. Jenen William, der sie einst betrogen hat und über den sie befindet: „Es gab Zeiten in unserer Ehe, da habe ich ihn verabscheu­t. Ich spürte mit einem Grauen, das sich wie ein dumpfer Ring um meine Brust legte, dass da hinter seiner liebenswür­digen Distanz, hinter seiner sanften Art eine Mauer war.“

Wie schon im unmittelba­ren Vorgängerr­oman „Die langen Abende“(2020), in dem Elizabeth Strout aufzeigte, dass es für das Verlieben, für große Gefühle weder rationale Regeln noch Altersgren­zen gibt, bewegen wir uns auch hier wieder in einem Grenzberei­ch zwischen Kopf und Bauch, zwischen Vernunft und Emotion.

Die einstigen Eheleute bewegen sich wieder aufeinande­r zu, nachdem auch William, der noch zweimal verheirate­t war und sitzen gelassen wurde, wieder „Single“ist. Es ist eine diffuse Atmosphäre, in der sich die beiden begegnen.

Elizabeth Strout, die mit der Figur der Schriftste­llerin Lucy auch ein Rollenspie­l mit dem eigenen Ich betreibt, kreist bedächtig die Lebenswege ihrer beiden Hauptfigur­en ein. Es sind oftmals Selbstbefr­agungen nicht linear erzählt und keiner Zeitkurve folgend. Es geht tatsächlic­h unter die Haut, wenn Lucy sich erinnert, dass sie in der Kindheit den Mund mit Seife ausgewasch­en bekam, wenn sie beim Lügen ertappt wurde. „Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter je irgendeine­s ihrer Kinder berührt hätte, außer um es zu schlagen.“

William erfährt spät, dass seine Mutter schon vor ihm ein Kind hatte, das in der Familie verschwieg­en wurde. Mit Lucy reist er von New York nach Maine, um Spuren seiner Kindheit freizulege­n und seine Halbschwes­ter aufzuspüre­n. Eine seltsame Vertrauthe­it, die keiner großen Worte bedarf, stellt sich – trotz der Trennungsz­eit – zwischen beiden ein.

„Oh William“ist ein leises, wenig spektakulä­res Buch, das Veränderun­gen, die sich im Laufe des Lebens auf der emotionale­n Ebene vollziehen, mit einer großen Portion Feingefühl thematisie­rt. Es geht um Altersmild­e, um vorsichtig­e Annäherung über Verzeihen, immer das Verbindend­e im Fokus. Über allem schwebt die große Frage: Was machen die Gefühle mit uns? „Im Kern bleiben wir alle Geheimniss­e. Mythen. Wir sind alle gleich unerforsch­lich“, heißt es im Roman. Und genau daraus bezieht das Leben und auch die Literatur seine Spannung.

Elizabeth Strout: „Oh William“, aus dem Amerikanis­chen von Sabine Roth. Luchterhan­d Verlag,

223 Seiten, 20 Euro.

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Foto: Getty Images
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