Versteckspiel auf dem Festivalgelände
Mit „Ma vie sous les tentes“gelingt Jeff Schinker der Spagat zwischen Ausgelassenheit und ernsthafter Gesinnung
Nach seinem viersprachigen Roman „Sabotage“(2018) ist Jeff Schinker nun mit einem neuen, durchaus leichteren Text zurück. „Ma vie sous les tentes“heißt der mitreißende Roman, der nicht nur eine ganze Reihe an Illustrationen von Alasdair Reinert beinhaltet, sondern dem auch eine Playlist beiliegt, die die Atmosphäre des Textes brillant unterstreicht. und Dichtung verschwimmen. Manche Stories sind schlichtweg derart abgedreht, dass man dazu neigt, deren Realitätsgehalt zu hinterfragen: Ist die Backstage-Geschichte, in der sich der Erzähler und einer seiner Freunde als Lichttechniker ausgeben, tatsächlich genauso passiert? Vermutlich schon!
Vielschichtiges Erinnern, komplexes Schreiben
Dennoch, betrachtet man die rückblickende Erzählsituation des Textes, darf Schinkers Alter Ego hier als unzuverlässiger Erzähler eingestuft werden und damit eben auch der Wahrheitsgehalt der einzelnen, durch die Erinnerung hervorgerufenen Episoden. Selbst die Herausgeberfigur von „Ivre Éditions“, die sich in einem Vorwort zum Text äußert und sich mittels vereinzelter Fußnoten in die Handlung einmischt, darf angezweifelt werden. Vielmehr scheint es, als ob der Autor hier mit der Herausgeberfiktion spielt und seine Leserschaft hinters Licht führen will.
Herausgeberfiktionen sind nichts Neues – Schriftsteller wie E.T.A. Hoffmann oder Cervantes griffen bereits auf dieses Verfahren zurück –, doch fungiert sie auch in diesem Roman als genial eingefädeltes Spiel. Und selbst wenn es sich hierbei doch nicht um einen fiktiven Herausgeber handeln sollte, geht die Rechnung trotzdem auf: die Initiierung von Verwirrung bei den Lesern und Leserinnen gelingt. In erster Linie sind es die amüsanten Anekdoten, die sich mit den seriöseren und nachdenklichen Passagen mischen, die den Roman so fesselnd machen. Diese werden nicht nur in den Fußnoten – die eigentlich einen wissenschaftlichen Gestus zitieren – wiedergegeben, sondern auch in die eigentliche Handlung eingeworfen. Allerdings scheint der Autor sich mancherorts in seinen eigenen Erinnerungen, die nicht linear wiedergegeben werden, zu verlieren. Schinker arbeitet mit Prolepsen und Retrospektiven, die teilweise ineinander übergehen. Er kommentiert und reflektiert Geschehenes und entfaltet sukzessive seine Selbstdarstellung. Dabei denkt er ebenfalls über den Akt des Schreibens nach, gibt linguistische und narratologische Erklärungen – einfach gesagt: er beschäftigt sich auf sprach- und literaturwissenschaftliche Weise mit seinem eigenen Text.
In ironisch-lakonischem Ton scherzt er über seinen eigenen Schreibstil und seine viel zu langen Sätze, die den Lesefluss stellenweise etwas erschweren. Die endlosen Schachtelsätze mit mehrfachen Klammern, Gedankenstrichen und Einschüben verleihen dem Roman dennoch seine Eigenart und passen im Wesentlichen auch zum verworrenen Akt des Erinnerns.
Eine ulkige Reminiszenz an das Festivalleben
Der Roman lebt von seiner bildhaften Sprache: Jeder der nach einem schlaflosen Musikfestival schon einmal ein Zelt zusammenlegen musste, weiß von welchen yogaartigen Bewegungen der Erzähler spricht, wenn er von den unmöglichen körperlichen Wendungen, die er beim Einpacken seines Zelts ausführt, erzählt.
„Ma vie sous les tentes“ist ein Roman der mit realen Personen und Ereignissen spielt, hintergründig unsere hektische Gesellschaft anprangert und sich als eine ulkige Reminiszenz an das Festivalleben entpuppt. Letztlich ist es doch auch einfach anregend, in einer Zeit, in der Hygieneregeln und Desinfektionsmittel den Alltag prägen, von Konzerten und Festivals zu lesen, bei denen man in einer schwitzenden Menschenmasse untergeht und im durchnässten Zelt übernachtet.
Jeff Schinker: „Ma vie sous les tentes“,
Hydre Éditions, 312 Seiten, 22 Euro.