Wie nach einer Bombardierung
Rettungshelfer haben kaum mehr Hoffnung, Überlebende des längsten Tornados in der Geschichte der USA zu finden
Kyanna Parsons-Perez gehört zu den Glücklichen, die den Einsturz der Kerzenfabrik vor den Toren der Kleinstadt Mayfield im Bundesstaat Kentucky überlebt haben. Doch dieses unheimliche Grollen des heranziehenden Tornados wird ihr wohl für immer in Erinnerung bleiben. Wie auch der Druck, den sie auf den Ohren verspürte. „Das Gebäude wankte von einer Seite auf die nächste“, erinnert sich die Arbeiterin im Gespräch mit einem Reporter des „Guardian“an den Moment vor dem Einsturz, während sie auf ihre Behandlung in der Notaufnahme wartet. Kurz darauf liegt sie unter den Trümmern der Fabrik begraben
Während Kyanna mit leichten Verletzungen geborgen werden konnte, überlebten Dutzende ihrer Arbeitskollegen den Einsturz der Fabrik nicht. Die meisten der rund 70 Toten, die der Tornado in dem Kohlestaat am Fuß der Appalachen forderte, kamen nach Angaben von Gouverneurs Andy Beshear in der Kerzenfabrik ums Leben.
Ein Zug entgleist im Sturm
Ein Wunder fast angesichts der Bilder des dem Erdboden gleichgemachten Städtchens Mayfield. „Es sieht so aus, als wären wir bombardiert worden“, beschreibt Bürgermeisterin Kathy Stewart O’Nan das Wüten des Tornados. „So viel Zerstörung habe ich noch nie in meinem Leben gesehen“, sagt auch Gouverneur Andy Beshear,
Anwohner von Mayfield im Bundesstaat Kentucky, wo der Tornado besonders heftig gewütet hat, beginnen am Tag danach mit der Bergung ihrer Habseligkeiten.
der Mühe hat, das Grauen in Worte zu fassen. Tote gab es auch beim Teil-Einsturz eines Amazon-Warenlagers in Edwardsville im US-Bundesstaat Illinois, einem Pflegeheim in Arkansas sowie in Tennessee zu beklagen. Der Tornado hatte so viel Kraft, dass er in Kentucky einen Zug zum Entgleisen brachte und zur Seite kippte.
US-Präsident Joe Biden rief für die betroffenen Regionen den Notstand aus und machte Mittel des nationalen Katastrophendienstes FEMA frei. Biden wollte sich nicht festlegen, ob dieses spezielle Extremwetter dem Klimawandel zuzuschreiben sei. Er wisse nur, dass eine Konsequenz der Erderwärmung „eine größere Intensität“von Wetterereignissen sei. Was der spezifische Einfluss auf dieses Sturmsystem sei, könne er „zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.“
Gewiss ist nach Auskunft von Experten nur, dass es sich um den längsten Tornado in der Geschichte der USA handelte. Den bisherigen Rekord hielt einer, der im Jahr 1925 eine 350 Kilometer lange
Schneise der Zerstörung von Missouri über Illinois bis hin nach Indiana hinterließ. Damals kamen 695 Menschen ums Leben. Mehr als 15 000 Häuser wurden zerstört.
Dieser Sturm war ein paar Kilometer länger, bewegte sich weiter östlich und ereignete sich zu einer Jahreszeit, in der solche Extremwetter-Katastrophen normalerweise nicht vorkommen. Tornados treten in der Regel verstärkt zwischen April und Mai auf, wenn kalte und warme Luftmassen im Herzen der USA aufeinandertreffen.
Außerhalb der Saison
Ferner handelte es sich nicht um einen isolierten Sturm. Der nationale Wetterdienst NWS erhielt insgesamt 37 Berichte von Tornados aus insgesamt sechs betroffenen Bundesstaaten. „Das waren die schockierendsten Wetterereignisse, die ich in 40 Jahren erlebt habe“, sagt der Meteorologe Jeff Masters, der sich auf Extremwetter-Ereignisse spezialisiert hat.
In Mayfield versuchen die Betroffenen Sinn in der Katastrophe zu finden. „Wir sind in der Weihnachtszeit und es passierte in einer Kerzenfabrik“, sagt Darryl Williams einem Reporter vor Ort. Er hoffe auf ein Wunder, dass seine vermisste Schwester Denise noch lebend aus den Trümmern der Fabrik geborgen werden kann. Es sei eine schwierige Vorstellung, dass die vierfache Mutter „das Geschenk des Lebens verloren“habe, während sie gerade selbst Geschenke herstellte.
So viel Zerstörung habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Gouverneur Andy Beshear