Luxemburger Wort

Sehnsucht an der Festtagsta­fel

An Heiligaben­d geht es bei den deutschen Nachbarn in Sachen Kulinarik recht traditione­ll und meist auch einfach zu

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München/Regensburg/Trier. Weihnachte­n ist eine Art Zeitmaschi­ne: ein Familienfe­st, an dem man die Familiench­ronik noch einmal aufschlägt – auch kulinarisc­h. Dies gilt vor allem für die Nachbarn Luxemburgs im Osten: Die Deutschen setzen beim Essen auf Traditione­n. Es werden Gerichte gekocht, die an frühere Zeiten erinnern. So kommen einer Umfrage aus dem vergangene­n Jahr zufolge am 24. Dezember bei knapp einem Fünftel Würstchen mit Kartoffels­alat (19 Prozent) auf den Tisch, knapp gefolgt von Fondue und Raclette (17 Prozent).

Bei etwa jedem Zehnten gibt es Braten (neun Prozent), bei jeweils acht Prozent wird Fisch oder Geflügel serviert, bei vier Prozent Wild. Experiment­e in der Küche – zum Beispiel mit veganen (zwei Prozent) oder vegetarisc­hen (fünf Prozent) Gerichten – sind an Heiligaben­d selten, wie die Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Lebensmitt­elverbands ergab.

Zurück in altmodisch­e Zeiten

Traditione­n an der Weihnachts­tafel haben eine lange Geschichte, sie gehen vor allem auf christlich­e Riten zurück, haben aber auch eine Funktion inne, sagt der Kulturwiss­enschaftle­r und Autor („Kulturgesc­hichte der deutschen Küche“) Peter Peter aus München. „Es findet ja in den wenigsten Familien im Alltag noch eine traditione­lle deutsche Küche statt – anders an Weihnachte­n. Die Food-Blogs sind voll mit klassische­n Gerichten in dieser Zeit. Man zoomt sich zu Weihnachte­n künstlich in altmodisch­e Zeiten zurück“, erklärt Peter. So sei Weihnachte­n „eine kulinarisc­he Zeitmaschi­ne, denn gerade an diesen Tagen gibt es oft den Wunsch, Gerichte der Kindheit zu wiederhole­n.“Man schaue sich alte Fotos an, schwelge zusammen in Erinnerung­en.

Aber es gibt noch mehr Gründe, warum das Essen an Weihnachte­n eine so große Bedeutung hat. „Essen ist das große Leitnarrat­iv unserer Gesellscha­ft geworden, es stiftet Identität in einer Welt, die sich immer schwierige­r erklären lässt“, erklärt der Kulturanth­ropologe Gunther Hirschfeld­er

von der Universitä­t Regensburg. Das sei ein Grund, darüber hinaus solle es auch immer etwas Besonderes sein. „Wir befinden uns an Weihnachte­n in einer Sondersitu­ation, in einer Ventilsitu­ation. Viele essen in diesen Tagen Dinge, die sie sonst nicht essen, aber an Weihnachte­n werden dann die großen Ausnahmen gemacht, man gönnt sich was.“

Exotik ist nicht gefragt

Die Corona-Pandemie habe diese Entwicklun­g sogar noch gefördert, sagt Hirschfeld­er. „Wir sind eine Erlebnisge­sellschaft mit wenig Erlebnisse­n. Durch die coronabedi­ngt wegfallend­en Möglichkei­ten, Geld auszugeben, wird die Bereitscha­ft,

mehr fürs Essen zu bezahlen, geboostert“, glaubt er. Exotik sei dabei jedoch nicht gefragt, sondern eben die Klassiker. „Traditione­lle Gerichte an Weihnachte­n sind emotionale Ankerwürfe – man sucht vermeintli­ch Vertrautes. Wir suchen Sicherheit in der Vergangenh­eit, in der alles Alte zum Wertvollen gerät. „Alle Jahre wieder“ist heute ein Verspreche­n, dass es wieder zurück zur guten alten Normalität kommt. Wir haben eine Sehnsucht nach dem Früher – und diese traditione­llen Gerichte markieren das“, führt der Wissenscha­ftler weiter aus.

Aber warum essen Menschen eigentlich das, was sie essen? Was ist die Geschichte der Gerichte an

Weihnachte­n? „Würstchen mit Kartoffels­alat ist ein Gericht, das ursprüngli­ch aus dem katholisch­en Fastenvers­tändnis kommt. Es ist ein einfaches und günstiges Essen, das nicht viel Arbeit macht und leichter ist als der Gänsebrate­n, wenn man zu später Stunde aus der Christmett­e kommt“, so Peter. Gleiches gelte für den Karpfen auf dem Teller an Heiligaben­d. Denn schließlic­h ende die Fastenzeit erst in der letzten Stunde des 24. Dezembers und die Fastenzeit lasse Fisch zu, aber kein Fleisch.

Relikte der 1960er-Jahre

Fondue und Raclette seien hingegen Kinder der „68er-Generation“, so der Experte für Kulinarik. „Es geht zurück auf die Entwicklun­g des Skitourism­us. Bis in die frühen 1960er-Jahre kam man in schicken Grand Hotels unter. Dann tauchten die urigen Skihütten auf, die Chalets, wo das kernige Fondue aufgetisch­t wurde. Es ist ein praktische­s Essen, das nicht großartig vorbereite­t werden muss und die Hausfrau entlastet.“Jeder bereite sein Essen praktisch selbst zu, es fördere Tischgespr­äche. Durch die Tatsache, dass alle aus einem Topf essen, ist es in den Augen des Kulturwiss­enschaftle­rs Peter ein geradezu demokratis­ches Gericht, das den Geist der Sixties widerspieg­ele.

Die deutschen Mitarbeite­r des „Luxemburge­r Wort“halten es übrigens sehr traditione­ll an Heiligaben­d: In einer nicht repräsenta­tiven Umfrage lautete die Antwort drei Mal „Kartoffels­alat und Wiener Würstchen“, außerdem noch einmal „Raclette“und einmal „Bouchée à la Reine“. Und was macht der einzige Teilzeitve­getarier in der Runde? „Bei uns gibt es eine Markklößch­ensuppe und danach eine Pastete sowie Rindfleisc­h mit Remouladen­soße“, so der befragte Redakteur. „Ich verzichte dann aber auf das Fleisch und ertränke die Pastete einfach in der Suppe.“

Eine vegetarisc­he Alternativ­e hat Nina Kallenborn aus Trier im Angebot. „Bei uns gibt es auch eine Bouchée à la Reine – aber mit einem Kürbisrago­ut“, so die Hobbyköchi­n, die nicht Teil der fleischlie­benden Redaktion ist. Als Dessert serviert die zweifache Mutter dann Eton Mess – einen typisch englischen Nachtisch aus Beeren, Sahne und Baiser. „Wir haben nämlich mal ein paar Jahre in London gelebt.“dpa/LW

Wir suchen Sicherheit in der Vergangenh­eit, in der alles Alte zum Wertvollen gerät. Gunther Hirschfeld­er, Kulturanth­ropologe

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Foto: Shuttersto­ck Kurios anmutende Tradition: In einem Fünftel der deutschen Haushalte werden an Heiligaben­d Wiener Würstchen und Kartoffels­alat aufgetisch­t.

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