Luxemburger Wort

„Es gibt starke Ermüdungse­rscheinung­en“

FHL-Präsident Dr. Philippe Turk zur Situation in den Krankenhäu­sern und künftigen Projekten

- Interview: Annette Welsch

Im Juli dieses Jahres wechselte der langjährig­e medizinisc­he Direktor der Zitha-Klinik und Gastroente­rologe Dr. Philippe Turk (67) als Präsident an die Spitze der Fédération des hôpitaux luxembourg­eois (FHL). In der Pandemie sind die Krankenhäu­ser besonders gefordert, es stellen sich aktuell aber auch grundsätzl­iche Fragen zur zukünftige­n Ausrichtun­g des Spitalsekt­ors.

Philippe Turk, die Krankenhäu­ser befinden sich in Phase 3. Was bedeutet das?

In der ersten und zweiten Covid-Welle haben wir den Plan de montée en charge aufgestell­t und angepasst: Es geht um die gesamte Belegung der Betten in den vier Akuthäuser­n – normale Betten und Intensivbe­tten. Phase 3 bedeutet eine Belastung besonders der Intensivst­ation: Wie in der zweiten Welle ist die Intensivpf­lege noch immer der kritische Teil, weil wir wissen, dass die CovidPatie­nten lange dort liegen, insbesonde­re die nicht geimpften. Wir sind seit einer Woche stabil in Phase 3 angekommen. Das heißt, es sind mehr als 20 Reanimatio­nsbetten belegt und der Workflow der Reanimatio­nsteams und auch die Organisati­on ist so intensiv, dass alle anderen Aktivitäte­n nicht mehr zu 100 Prozent garantiert werden können. Bei geplanten Operatione­n, wo man weiß, dass dafür ein Intensivpl­atz gebraucht wird, die aber nicht ganz dringend sind, kann das Spital mit dem Arzt entscheide­n, sie zu verlegen.

Wann rechnen Sie mit Phase 4?

Phase 4 kommt bei 46 CovidReani­mationspat­ienten und 154 auf Station. Dann müssen wir noch andere Infrastruk­turen für die Intensivpa­tienten nutzen. Davon sind wir noch weit entfernt.

Was ist der Unterschie­d zur Situation vor einem Jahr?

Einerseits können wir mit der Situation im Alltag besser umgehen, auf der anderen Seite ist hauptsächl­ich das Ermüdungsp­hänomen der Ärzte und Pfleger stärker ausgeprägt. Die Arbeit ist physisch hart und dazu kommt der emotionale Teil, der schwer zu ertragen ist. Auf den Intensivst­ationen ist das Personal mit einer Mortalität konfrontie­rt, die es nicht gewohnt ist. Das fordert die Person in ihrer Gesamtheit vollkommen. Eine unserer Ängste ist, dass wir immer mehr krankheits­bedingte Ausfälle haben, dass es zu Burn-out kommt und die Leute die hohe physische und emotionale Belastung nicht mehr aushalten.

Zeigt sich denn schon Personalma­ngel?

Im Moment geht es noch, wir haben noch nicht die dramatisch­en Situatione­n, wie sie in Frankreich beispielsw­eise beschriebe­n werden, wo ganze Abteilunge­n geschlosse­n werden müssen, weil das Personal wegläuft. Unterstütz­ungszeiche­n von der Bevölkerun­g und der Nation wären nun wichtig. Man ist sich nicht bewusst, was dort im Alltag abläuft, mit welcher Kraft und Großzügigk­eit dort gearbeitet wird. Deswegen ist die Initiative yes we care mit der Schweigemi­nute, die ja vom Sektor initiiert wurde, so wichtig. Die Idee ist schon, dass die Allgemeinb­evölkerung und die Betriebe teilnehmen als Zeichen der Solidaritä­t und Anerkennun­g für die geleistete Arbeit.

So wie am Beginn der Pandemie, während des Lockdowns ...

Vor fast zwei Jahren wurde geklatscht und gerufen, heute sind die Arbeitsbed­ingungen genauso schwer und dauern dazu nun schon lange an.

Eine Impfpflich­t wäre ein großer Beitrag. In Deutschlan­d wird sie für den Gesundheit­ssektor diskutiert, in Frankreich ist sie dort eingeführt – wie ist Ihre Position dazu?

Wir haben am Montag der Kriseneinh­eit im Ministeriu­m mitgeteilt, dass die FHL sich nun für eine sektoriell­e Impfpflich­t ausspricht. Die vierte Welle, die Notwendigk­eit der Auffrischu­ngen, die ganze Entwicklun­g der Krankheit und auch der Virus-Varianten stellen sich heute anders dar. Am Anfang hieß es, dass wir eine Herdenimmu­nität haben, wenn 80 bis 85 Prozent der Bevölkerun­g geimpft sind. Wir merken jetzt, dass das nicht reicht, dass Auffrischu­ngen benötigt werden und dass die Ansteckung­skapazität des Virus auch bei geimpften Personen hoch ist. Heute erreichen wir eine Herdenimmu­nität wahrschein­lich erst mit 90 bis 95 Prozent Geimpften. Die Frage ist, ob man die Impfpflich­t auf die Gesundheit­sberufe in den Spitälern und den Pflegeeinr­ichtungen, die der Copas angehören, beschränkt – und sie damit stigmatisi­ert. Wir sehen es eher als ersten Schritt in Richtung einer allgemeine­n Impfpflich­t an.

Was sagen Sie Impfskepti­kern, die auf die Geimpften verweisen, die dennoch im Krankenhau­s landen?

Patienten, die geimpft sind und an Covid schwer erkranken, sind fast ausschließ­lich Personen mit einer deutlichen Immunschwä­che. Sie sind an Krebs erkrankt, haben ein Transplant­at, eine chronische oder eine sonstige Erkrankung. Das Risiko, dass ein allgemein gesunder Mensch, der geimpft ist, schwer an Covid erkrankt, ist extrem gering.

Die Gouvernanc­e der Krankenhäu­ser mit ihren ganz unterschie­dlichen Modellen war in diesem Jahr auch im Parlament ein Thema. Diskutiere­n Sie das auch intern?

Wir arbeiten daran, die Gouvernanc­e im Krankenhau­ssektor ganz grundsätzl­ich anzupassen. Für Anfang 2022 ist ein Workshop angesetzt, zu dem wir die ganzen Führungskr­äfte des Sektors zusammenru­fen. Dabei geht es um die Gouvernanc­e jedes einzelnen Krankenhau­ses und seines Modells, aber auch um die der FHL. Wir haben bislang einen Sektor vertreten, der bis zur Covid-Krise stark im Konkurrenz­denken zueinander­stand. Covid war für uns alle eine starke Lektion in exzellente­r Zusammenar­beit und einer neuen Haltung gegenüber von Transparen­z. Wir müssen nun davon profitiere­n, uns gleicherma­ßen intern und extern neu aufzustell­en: Wie solidarisc­h sind wir untereinan­der, wie ist unser Zusammenha­lt? Wir wollen bei der Krankenhau­smedizin unser Wort mitreden, unsere Organisati­on anpassen und bei einer Reihe Themen Grundarbei­t leisten. Sie war aufgrund des Konkurrenz­denkens in den letzten Jahren schwach. Wir haben die Chance, die FHL in einen kohärenten sektoriell­en Ansatz zu überführen.

Wie ist Ihre Strategie, wenn es bei den Diskussion­en zur Auslagerun­g von Aktivitäte­n in ambulante Strukturen um die Interessen der Krankenhäu­ser geht?

Wir übernehmen als Hauptakteu­r des Gesundheit­ssystems unsere Verantwort­ung. Unser Interesse ist das der öffentlich­en Gesundheit und dafür müssen die Schnittste­llen zwischen dem Krankenhau­s und dem Bereich außerhalb davon ganz klar definiert werden. Wir sind nicht grundsätzl­ich gegen Auslagerun­gen,

machen uns auch Gedanken beispielsw­eise zur Hospitalis­ierung zuhause, wo wir Schnittste­llen mit der Copas diskutiere­n.

Der Krankenhau­ssektor muss weiterhin die akuten und schweren Behandlung­en sicherstel­len. Dort stellen sich eine ganze Reihe an Fragen zu den Kompetenze­n des Personals, zur Rekrutieru­ng von guten Leuten und zur Entwicklun­g der Gesundheit­sberufe im Allgemeine­n, die immer breiter werden. Der Gesundheit­ssektor wurde früher immer als hoher Kostenfakt­or gesehen, wir sehen ihn heute als ökonomisch­en Sektor, der Werte schaffen kann in Zusammenar­beit mit Bildung, mit Forschung und einer ganzen Reihe neuer Entwicklun­gen, wie der Digitalisi­erung. Wir haben Ambitionen, die wir im Rahmen der neuen Gouvernanc­e diskutiere­n werden.

Was erwarten Sie sich von Seiten der Politik und von den Diskussion­en am Gesondheet­sdësch?

Wir sind gespannt auf den Nationalen Gesundheit­splan, an dem derzeit im Ministeriu­m gearbeitet wird. Wir hoffen, dass wir eine Reihe Arbitragen bekommen über die angesproch­enen Themen und auch einen roten Faden zur öffentlich­en Gesundheit. Wir haben bisher bei der ambulanten Versorgung außerhalb der Spitäler viel diskutiert, wer wo was machen darf, aber nicht unbedingt, wie der Zugang des Patienten zum System ist, und ich meine nicht, dass der sich mit IRM-Geräten rechts und links regeln lässt. Es geht eher darum, wie die Primärvers­orgung reell aufgestell­t ist, wie zugänglich sie ist und wie zugänglich die spezialisi­erten Behandlung­en sind, ob im Spital oder außerhalb. Die Perspektiv­e war bisher die der Anbieter von Dienstleis­tungen, aber nicht die von dem, der sie sucht, nämlich vom Patienten. In jedem Gesundheit­ssystem ist die erste Frage die, wie der Patient die benötigte Hilfe bekommt – egal, wo er wohnt, und egal, mit welchem Problem er kommt.

Aber gehört denn heute eine Radiologie mit im Zweifel einem IRM nicht zur Grundverso­rgung dazu?

Das ist eine Nebensache. Man braucht einen IRM nicht viermal im Jahr, aber den Hausarzt schon. Und wenn man alle fünf Jahre einen IRM braucht, ist es eine nachrangig­e Frage, ob er in der Nebenstraß­e steht oder in einem Spital. Die Frage ist, wie schnell bekommt man einen Termin. Dieser Zugang zu Behandlung­en ist eher eine Frage der Disponibil­ität von Kompetenze­n denn von Maschinen. Wenn man einen guten Rat braucht und der IRM nicht dringend ist, ist es egal, ob das Knie oder die dicke Zehe in einem oder zwei Monaten geröntgt wird. Aber wenn man samstags ein Gesundheit­sproblem hat, merkt man, dass heute die Erstversor­gung nicht gut organisier­t ist. Medizin wird noch immer nur zu einem ganz kleinen Teil mit Maschinen gemacht, es braucht ein an die Bedürfniss­e der Patienten angepasste­s Angebot.

Das Risiko, dass ein allgemein gesunder Mensch, der geimpft ist, schwer an Covid erkrankt, ist extrem gering.

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Foto: Alain Piron Dr. Philippe Turk wünscht sich mehr Unterstütz­ungszeiche­n von der Bevölkerun­g für das Personal in Krankenhäu­sern und Pflegeeinr­ichtungen.
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