Luxemburger Wort

Südafrika hat sein „Gewissen“verloren

Der Friedensno­belpreistr­äger und Erzbischof Desmond Tutu ist am Zweiten Weihnachts­tag in Kapstadt gestorben

- Von Markus Schönherr (Pretoria)

Von der Methodiste­nkirche in Kapstadt hängt ein übergroßes Banner: „Danke, dass Du uns gezeigt hast, wie man Gerechtigk­eit bewirkt, Gnade liebt und Bescheiden­heit übt“, ist darauf zu lesen. Über dem Spruch in Regenbogen­farben faltet Desmond Tutu die Hände zum Gebet. In Südafrika herrscht Trauer über den Tod des geliebten Bürgerrech­tlers und Friedensno­belpreistr­ägers. Wie Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa bekannt gab, habe sein Land gestern ein „weiteres Kapitel des Verlustes“aufgeschla­gen, mit dem man sich von einer „Generation herausrage­nder Südafrikan­er“verabschie­de.

Tutu starb gestern Morgen, zwei Monate nach seinem 90. Geburtstag, in Kapstadt. Als anglikanis­cher Erzbischof hatte er das Apartheid-Regime jahrelang von der Kanzel aus bekämpft. Sein Einsatz bis weit in die Rentnerjah­re hinein hatte ihm den Beinamen „Südafrikas moralische­r Kompass“eingebrach­t. „Wir beten dafür, dass die Seele von Erzbischof Tutu in Frieden ruht, während sein Geist über die Zukunft unserer Nation wacht“, betonte Ramaphosa.

Auch der amtierende Erzbischof von Kapstadt, Thabo Makgoba, erinnerte an das Wirken seines Vorgängers. Ihm zufolge hat Tutus Glaube dessen Einsatz gegen die Rassentren­nung und das Apartheid-Regime motiviert. Weil er an Gott und die Überlegenh­eit von Gerechtigk­eit und Freiheit glaubte, habe Tutu „niemanden gefürchtet“, so Makgoba: „Er kämpfte gegen Systeme, die die Menschlich­keit erniedrigt­en.“

Brutplatz des Widerstand­s

1985 wurde Desmond Mpilo Tutu innerhalb der anglikanis­chen Kirche zum ersten schwarzen Bischof von Johannesbu­rg gewählt, ein Jahr später als erster Afrikaner zum Erzbischof von Kapstadt. Er verwandelt­e die St. George-Kathedrale im Herzen der weißen Parlaments­hauptstadt zum Brutplatz des Widerstand­s. „Wer in einer Situation der Ungerechti­gkeit neutral bleibt, hat die Seite des Unterdrück­ers gewählt“, war Tutu überzeugt. Die Tatsache, dass der Revoluzzer in Bischofsku­tte den Friedensno­belpreis gewonnen hatte, bescherte ihm ein gewisses Maß an Immunität. In seinem Leben habe er nicht nur eine Tuberkulos­eerkrankun­g

überwunden, so Präsident Ramaphosa, sondern auch „die Brutalität der Sicherheit­skräfte“und die „Hartnäckig­keit aufeinande­rfolgender Apartheid-Regierunge­n“. Weder Tränengas noch Apartheid-Polizisten hätten Tutus „eisernen Glauben an unsere Befreiung“erschütter­t.

1994 überwand Südafrika die Apartheid, Nelson Mandela wurde Präsident. Unvergesse­n bleibt eine Begebenhei­t bei der Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n (TRC): Als deren Vorsitzend­er, Desmond Tutu, in Tränen ausbrach. Dazu bewegt hatte ihn die Aussage eines Regimeopfe­rs, das beschrieb, wie es bei Folterunge­n regelmäßig beinahe erstickt wäre. „Wo immer er war, machte er die Welt zu einem gütigeren, freundlich­eren Ort, und erinnerte uns daran, dass wir uns durch Wahrheitsf­indung und Wiedergutm­achung selbst heilen können“, sagte die frühere MandelaSek­retärin und Buchautori­n Zelda La Grange. Das südafrikan­ische Online-Magazin New Frame nennt Tutu einen „Architekte­n der südafrikan­ischen Demokratie“.

Auf der Weltbühne unterwegs

Selbst nach seinem offizielle­n Rentenantr­itt an seinem 79. Geburtstag sprach sich Tutu regelmäßig gegen Missstände aus. Auf der Weltbühne trat er für Unterdrück­te in Tibet, Myanmar und Palästina

ein. In seiner Heimat Südafrika prangerte er illegale Waffengesc­häfte und Ausländerf­eindlichke­it an sowie die Diskrimini­erung von Homosexuel­len und Menschen mit HIV/Aids.

Zuletzt kritisiert­e er oft den regierende­n Afrikanisc­hen Nationalko­ngress (ANC). „Es scheint mir, dass eine Truppe aus Freiheitsk­ämpfern nicht so einfach den Wandel zu einer Politparte­i schafft“, sagte Tutu 2013. Der ANC schlittert­e in den vergangene­n Jahren von einem Korruption­sskandal zum nächsten. Südafrika gilt als Land mit großen Einkommens­unterschie­den, jeder Dritte ist arbeitslos. „Obwohl er am demokratis­chen Übergang mitwirkte, zögerte er nicht, die neue Regierung sowohl an ihre moralische Verantwort­ung als auch an ihre zunehmende­n Mängel zu erinnern“, so die Tutu-Stiftung in Kapstadt.

In Johannesbu­rg beklagte die Sunday Times gestern Morgen, die Welt habe einen „internatio­nalen Streiter für Frieden und Versöhnung“verloren. „Aber für Südafrika bedeutet das viel mehr. Das Land hat sein Gewissen und seinen Polarstern verloren, der die Nation seit den 1980ern geleitet hat.“

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Foto: AFP Die Welt trauert um Desmond Tutu.

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