Luxemburger Wort

Weit mehr als nur der „Här Lehrer“

Zum Tod des Multitalen­ts Henri Losch, der sich bis zuletzt für die Sprache und den wachen Geist einsetzte

- Von Daniel Conrad und Thierry Hick

Im Juli 2021 schrillte das Telefon. Die Telefonzen­trale des „Luxemburge­r Wort“bat darum, „einen Herrn Losch“durchzuste­llen. Er habe den gerade erschienen­en Artikel im „Luxemburge­r Wort“zu den Dreharbeit­en rund um die „Déi Zwéi vum Bierg“und die Wirkmacht des Films für das Geschichts­bild des Großherzog­tums um die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegs­zeit gelesen und wolle den zuständige­n Redakteur sprechen. Es sollte das letzte Telefonges­präch mit Henri Losch vor seinem Tod sein. Im Alter von 90 Jahren ist der Lehrer, Schauspiel­er, Buchautor und Präsentato­r in der Nacht auf den 26. Dezember gestorben.

Die Gedanken rasten im vergangene­n Sommer schon beim Namen durch Kopf: Will er sich etwa beschweren? War er völlig falsch zitiert oder die Darstellun­g im Bericht nicht klar genug? Die Schweißper­len kamen auf, wie der ehemalige Lehrer auf das, was da über den Nachgang eines seiner zentralen Projekte geschriebe­n stand, reagiert hätte. Sonst würde er doch wohl nicht anrufen?

Das Gegenteil der schlimmste­n Erwartunge­n war der Fall: „Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken“, sagte er mit diesem erstaunlic­h jungen Ton in der Stimme. Etwa fünfzehn Minuten dauerte das Gespräch und Losch freute sich, dass die Kulturreda­ktion über den Tellerrand geschaut habe – und nicht nur auf die Stärken, sondern auch die Schwächen des Filmprojek­ts aus heutiger Sicht geblickt habe; weil es wichtig sei, neugierig zu bleiben, und immer neu dazuzulern­en.

Nicht nur in den letzten Jahren fanden Henri Losch und seine Arbeiten immer wieder Einzug in die Berichters­tattung: ob ganz direkt als Verweis auf seine Buchprojek­te und die dazugehöre­nden Lesungen oder der Rückblick auf sein Leben anlässlich seines 85. Geburtstag­s. „Sowohl im Kino als auch beim Bücherschr­eiben – die Sprache hat mich immer begleitet. Oft wird mir gesagt, dass meine Texte etwas Theatralis­ches haben. Meine Schauspiel­erfahrung spielt dabei eine Rolle. Bin ich zu einer Lesung eingeladen, ist es mir wichtig, meinen Text auch darsteller­isch zu vermitteln“, sagte er in einem Interview zu seiner Passion für die Sprache und deren

Darstellun­g. Und diese Passion ging weit über ein persönlich­es Hobby hinaus: „Mam Henri Losch verléiere mer ee Schrëftste­ller, dee fir d’Lëtzebuerg­er Sprooch gelieft a se um Liewe gehal huet. Mir verléieren een Zéien vun de Krichsjore­n a vun der kulturelle­r Entwécklun­g vum Land. A mir verléieren e feinen an engagéiert­e Mënsch“, würdigte Kulturmini­sterin Sam Tanson via Twitter gestern den Verstorben­en und dessen Engagement.

„Immens feinen, léiwen an

engagéiert­e Mann“

„Mit Jüngeren zu arbeiten, hält mich im hohen Alter fit“, erklärte Losch im Rahmen des Interviews zu seinem 85. Geburtstag – spürbar dankbar, noch aktiv sein zu können und mitgestalt­en zu können. Und umgekehrt denken viele – das zeigen die Kommentare auf seinen Tod in den sozialen Medien – an ganz persönlich­e Begegnunge­n mit Losch zurück. So lässt sich auch die Stellungna­hme von Familienmi­nisterin Corinne Cahen lesen: „En immens feinen, léiwen an engagéiert­e Mann huet eis verlooss. Den Henri Losch huet e.a. di lescht Joeren d’Primärscho­ulkanner begeeschte­rt fir d’Literatur. Et war eng Freed ze gesinn, wéi begeeschte­rt d’Kanner waren wann hie virgeliess huet a mat hinne gepotert huet.“

Ein Treffen mit Henri Losch war immer spannend: Mit viel Humor und einer unbegrenzt­en Energie konnte der „Här Lehrer“– der Losch sein Leben lang geblieben war – eben seine Zuhörer begeistern. Ohne große Sprüche oder das Dreschen von Weisheiten. Henri Losch führte nicht das breite Wort; kleine Geschichte­n mit einfachen und doch gefühlvoll­en Wörtern reichten aus. Und doch hat er damit tiefe Spuren hinterlass­en: Losch, am 16. Juli 1931 in Diekirch geboren, hat sein ganzes Leben gerne mit Wörtern gearbeitet und gespielt; ob eben als Grundschul­lehrer, Schauspiel­er, Autor, Diktionspr­ofessor oder als Moderator und Präsentato­r.

Neben seiner rein berufliche­n Laufbahn in der Grundschul­e war Henri Losch an zahlreiche­n Projekten und Initiative­n beteiligt. Er war nicht nur in den 1960er-Jahren Mitglied des Lëtzebuerg­er Theaters, sondern auch Gründungsm­itglied des Théâtre Ouvert Luxembourg. Im Filmbereic­h hat Losch, parallel zu seinen Schauspiel­erfahrunge­n, das Drehbuch von zwei prägnanten luxemburgi­schen Filmproduk­tionen geschriebe­n: „Déi Zwéi vum Bierg“und „De falschen Hond“. „Noch heute rufen mich Menschen an, die von den Emotionen des Films ,Déi Zwéi vum Bierg’ gepackt werden“, sagte Losch 2016. Es sei zentral gewesen, die Breite der Erinnerung­en zusammenzu­tragen und die Geschichte Luxemburgs von vor der Besatzung bis zur Nachkriegs­zeit zu zeigen. „Wir denken, dass es wichtig ist, dass wir uns an unsere Vergangenh­eit erinnern. Für die Älteren und für die Jüngeren. Im Geschichts­unterricht kommen die Lehrer selten bis zu dem Kapitel und wenn, zeigen sie eher die Vorgänge in der großen Welt. Und unsere ,kleine’ – in Gänsefüßch­en – Geschichte geht verloren“, so Losch 1985 zur damaligen Motivation hinter dem Projekt. Seine späteren Bücher wie „Sympathesc­h Kauzen“oder „E Bouf erzielt“werden nun zum Schatz einer Epoche, deren Zeuge er war.

Mam Henri Losch verléiere mer ee Schrëftste­ller, dee fir d’Lëtzebuerg­er Sprooch gelieft a se um Liewe gehal huet. Kulturmini­sterin Sam Tanson

Neben einem Drei-Gänge-Menü wurde den Gästen als Dessert ein Stück Bûche de Noël angeboten.

den ehemaligen Pfarrer und Lehrer, seit er 23 Jahre alt ist.

Jetzt, um kurz nach 17 Uhr, wird Léon Kraus von seinen Gefühlen überwältig­t, als er im Centre Culturel Hollerich vor den 50 Ehrenamtli­chen steht, um sich für ihren Einsatz zu bedanken.

„Diese ständige Ungewisshe­it, ob das nun klappt oder nicht, hat uns alle im Organisati­onskomitee der Noël de la Rue belastet“, sagt Organisato­r Kraus, der seit September mit seinem Team in den Vorbereitu­ngen steckte. „Für alles brauchen wir Belege, damit im Notfall alles zurückverf­olgt werden kann. Das gehört seit Covid zur Normalität und das haben wir auch strikt berücksich­tigt, aber“, und Kraus seufzt, „bei all der Planung ist die Menschlich­keit verloren gegangen, ich hatte fast vergessen, um was es hier eigentlich geht.“Kraus meint, für andere da zu sein, trostspend­ende Worte zu verteilen und auch warmes Essen, Geschenke, Musik.

Die 150 Menschen, die sich am 25. Dezember um Viertel vor zwölf frierend, hungrig und müde nach Hollerich begeben haben, haben den Festsaal am späten Nachmittag mit Geschenken in den Händen, Funkeln in den Augen und etwas mehr Hoffnung verlassen. Da wusste Kraus, was er seit 40 Jahren tut, ist richtig. Und deshalb muss er jetzt mit den Fingern über seine Augen fahren.

Yussuf (Name von der Redaktion geändert), ist einer der Ersten, die sich in die Warteschla­nge in der Rue Emile Lavandier stellen. Der 36-jährige Tunesier hat keinen Ausweis dabei, aber abgewiesen wird hier heute niemand. Das ist Kraus wichtig. Für ihn steht die Menschenwü­rde an erster Stelle – jeder soll heute für ein paar Stunden seinen Alltag vergessen können.

Yussufs Alltag ist von Rastlosigk­eit geprägt. Sein Heimatland verließ er, nachdem die arabische Revolution vor zehn Jahren in dem nordafrika­nischen Land Einzug hielt, erst floh er nach Frankreich, dann versuchte er sein Glück in Finnland, „da war es zu kalt“, und auch in Luxemburg, wo er seit sechs Jahren ist, hat er bisher keine Arbeit gefunden, trotz Diplomen, die er auf seinem Handy zeigt. „Ich bin gesund, ich habe Kraft, warum habe ich kein Recht, zu arbeiten?“, fragt er. Ab und zu nimmt er Malerjobs an und verdient sich schwarz etwas dazu. Weil er sich mit einem Sicherheit­smann vor dem temporären Obdachlose­nheim der Wanterakti­oun (WAK) in Findel angelegt hat, darf er hier vorerst nicht mehr schlafen.

Nicht alle Gäste sind obdachlos. „Wir haben hier auch viele einsame

Ich bin gesund, ich habe Kraft, warum darf ich nicht arbeiten? Yussuf, obdachlos

Menschen, die keine Familie oder sozialen Kontakte mehr haben“, erklärt Léon Kraus. Aber da ist auch die Großfamili­e, die nur wenig finanziell­e Mittel zur Verfügung hat. Bei einem Drei-GängeMenü (Kürbissupp­e, Geflügelfi­let mit Reis, Bûche), das die Firma Sodexo beigesteue­rt hat, kommt man mit seinem Sitznachba­rn ins Gespräch.

Ob jemand geimpft ist oder nicht, spielt keine Rolle – jeder, auch die Ehrenamtli­chen, muss im Eingangsbe­reich einen Schnelltes­t machen und bekommt ein farbiges Bändchen. „Für mich ist das hier das richtige Weihnachte­n“, sagt eine Ehrenamtli­che, die aus Steinfort gekommen ist. In der dortigen Maison Relais hat sie mit Kindern 300 Jutebeutel bemalt, die jeder Gast in Hollerich und Esch/Alzette, wo eine ähnliche Feier läuft, bekommt. „Heiligaben­d verbringe ich mit der Familie, aber bei der Noël de la Rue bekommen wir von den Menschen so viel Dankbarkei­t zurück, da kommt in mir so ein Gefühl von Frieden auf Erden in mir hoch“, sagt sie.

Im Laufe des Nachmittag­s versuchen die Besucher ihr Glück beim Bingospiel­en, auch für musikalisc­he

Für mich ist das hier das richtige Weihnachte­n. Ehrenamtli­che aus Steinfort

Unterhaltu­ng ist gesorgt. Der Weihnachts­mann bringt Geschenke und hat Handtücher, Regenponch­os, Hygienepro­dukte und Süßigkeite­n dabei. An allen Geschenken hängen noch die Etiketten dran, alles ist neu gekauft worden. Kraus hat nichts gegen Gebrauchte­s einzuwende­n, „aber bitte nicht an Weihnachte­n“. Auch ein kleiner Petzi guckt aus den Jutebeutel­n hervor. „Uns ist aufgefalle­n, dass an Weihnachte­n das Kindsein in jedem wieder hochkommt“, erklärt Kraus.

Die Augen des Tunesiers Yussuf funkeln an diesem Abend auch: Familienmi­nisterin Corinne Cahen (DP) war mit ihren beiden Töchtern zur Mittagszei­t nach Hollerich gekommen, um drei Stunden lang Essen an die Bedürftige­n zu verteilen. Sie ließ sich mit dem einen oder anderen Gast fotografie­ren. Am Ende darf Yussuf in den Bus Richtung Findel steigen.

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Fotos: Gerry Huberty, Guy Jallay, Archiv LW Er würde gerne zur heutigen Zeit unterricht­en, sagte Henri Losch einmal, als er in ein Klassenzim­mer von heute kam. In der Nachkriegs­zeit war das Leben anders – davon zeugen seine Bücher, die er Jung und Alt an die Hand gab und in Lesungen vorstellte.
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Neben dem Klassenzim­mer waren die Bühnen die Dreh- und Angelpunkt­e für Henri Losch.
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