„Ich wollte einfach nur weg“
Über 30 000 nordkoreanische Flüchtlinge leben heute in Südkorea – die 29-jährige Kim So Yeon musste alles zurücklassen
Seoul. Schon als sie acht Jahre alt war, dachte sie an Flucht. „Ich dachte damals nicht an Südkorea, ich wollte einfach nur weg.“Wenn die 29-jährige Kim So Yeon von der Flucht aus ihrem Heimatland Nordkorea erzählt, bleibt sie gelassen und bestimmt. Das ist nicht selbstverständlich, sie erlebte nach eigenen Angaben Hunger, musste früh arbeiten, hatte als Teenager keine Schule besucht, wurde bedroht und geriet in die Hände von Menschenhändlern. Ihre Fluchterlebnisse verfolgen sie bis heute in ihren Träumen.
Kim So Yeon, heute wohnhaft in Seoul, ist nicht ihr richtiger Name. Auch will sich die junge Frau mit den gefärbten Haaren, die sich in Südkorea zur „Beauty Designerin“ausbilden lässt, nur mit dem üblichen Mund-Nasenschutz gegen Corona fotografieren lassen – aus Angst vor möglichen Repressalien gegen ihre Familie durch staatliche Dienste in Nordkorea, sollte ihre Identität den dortigen Behörden bekannt werden.
Kim ist einer von vielen nordkoreanischen Flüchtlingen, die sich in Südkorea niedergelassen haben. Das Vereinigungsministerium in Seoul zählt bis heute offiziell rund 33 800 Nordkoreaner, die seit 1998 nach Südkorea gekommen sind. Mitte der 1990erJahre erlebten die Nordkoreaner eine schwere Hungersnot. Es war für die Menschen ein einschneidendes Erlebnis: Schätzungen zufolge verhungerten damals Hunderttausende.
Flucht nach China
Seitdem verließen immer mehr Nordkoreaner auf der Suche nach einem besseren Leben ihr totalitär regiertes Land. Die meisten von ihnen flüchteten über die Grenze nach China, wo viele im Untergrund lebten – aus Angst, von der chinesischen Polizei gefasst und zurückgebracht zu werden. Wie viele es bis heute sind, ist unbekannt.
Der größte Teil der Flüchtlinge stammt wie Kim So Yeon aus der Grenzregion zu China. Kim wuchs in Hyesan in der Provinz Ryanggang auf. Vor neun Jahren kam sie allein über China und den Umweg Südostasien nach Südkorea. Ihre Fluchtroute ist dabei typisch für viele Flüchtlinge, von denen die meisten dabei auf die Hilfe südkoreanischer Organisationen angewiesen sind.
Ihr Vater und ihr jüngerer Bruder leben noch in Nordkorea, erzählt Kim. Ihre Mutter sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als sie noch sehr jung gewesen sei. „Ich musste mich deshalb um meinen Bruder kümmern.“Eine weiterführende Schule habe sie nie besucht, schon als Teenager habe sie im ganzen Land mit Lebensmitteln wie etwa Bohnen gehandelt, um über die Runden zu kommen. „Ich reiste oft auf Lastwagen oder mit dem Zug.“Um aber über die Provinzgrenzen zu gelangen, habe sie wie andere Händler auch die Sicherheitskräfte mit Zigaretten oder anderen Artikeln bestechen müssen.
Kims Angaben decken sich mit denen zahlreicher anderer Flüchtlinge. Es ist demnach für Nordkoreaner nicht einfach, im eigenen Land zu reisen, für den Besuch in vielen Regionen einschließlich der Hauptstadt Pjöngjang ist ein behördliches Reisezertifikat erforderlich. Doch seit der Hungersnot verbreiteten sich immer mehr private Märkte – die Jangmadang -, auf denen zahlreiche Nordkoreaner, vor allem Frauen, Handel treiben. Der Handel zwingt viele auch dazu, herumzureisen.
Selten genug zu essen
„Ich dachte damals nur, mein Leben ist zu hart, ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen“, erzählt Kim. Um etwas zu essen zu haben, habe sie später in den nahe gelegenen Bergen Kartoffeln und andere Pflanzen angebaut. „Besonders im Frühjahr und im Sommer gab es selten genug zu essen.“
Schon als sie elf Jahre alt gewesen sei, habe sie versucht, über den Grenzfluss Amnok (Yalu) nach China zu gelangen – zuerst aus Neugier, wie sie sagt. Sie sei aber von Grenzposten geschnappt und anschließend geschlagen worden. Dabei habe sie noch Glück gehabt: „Weil ich noch so jung war, schickten sie mich nicht in ein Arbeitslager.“Noch heute verfolgten sie im Schlaf die damaligen Erlebnisse. „Ich träume manchmal, was ich damals spürte. Ich renne schnell über einen Hügel, sodass sie mich nicht einfangen können.“
Von einer älteren Freundin sei sie schließlich zur gemeinsamen Flucht überredet worden. Kim fragte eine Tante, ob sie sich um ihren Bruder kümmern könne, bevor sie den Amnok nach China durchschwamm. Da war sie 18 Jahre alt. Sie habe zuerst Geld verdienen und dann später eventuell nach Nordkorea zurückkehren wollen. „Doch mein Plan ging nicht auf, ich wurde von Menschenhändlern verschleppt, die mich mit einem Chinesen verheiratet haben.“Im ländlichen China gebe es einen Frauenmangel. „Frauen aus Nordkorea sind daher willkommen“, sagt Kim.
Sie habe von ihrem neuen Wohnort zu flüchten versucht, sei aber zunächst wieder eingefangen und weggesperrt worden, sagt Kim. Als ihr die Flucht doch noch gelungen sei, sei sie von der Polizei gefasst und für zwei Monate eingesperrt worden. Über Kontakte zu den lokalen Behörden und zur südkoreanischen Botschaft sei sie aber freigekommen, es folgte ihre Reise nach Südkorea.
„In Nordkorea war es körperlich hart, hier ist es vor allem emotional schwierig zu leben“, sagt Kim. Nach Südkorea sei sie mit großen Erwartungen gekommen. Doch ohne ihre Familie zu leben, falle ihr schwer. „Ich vermisse oft meine Familie, auch ist es schwer, sich an die südkoreanische Kultur zu gewöhnen.“Sie macht jedoch deutlich: Ihre Flucht bedauert sie nicht. dpa