Luxemburger Wort

„Das Schiff ist überladen“

Fedil-Direktor René Winkin über die aktuell schwierige Lage der Luxemburge­r Industrie

- Interview: Thomas Klein

Eine Pandemie, Engpässe in den Lieferkett­en, deutlich gestiegene Energiepre­ise, Kampf gegen den Klimawande­l, dazu der sich seit Jahren verschärfe­nde Fachkräfte­mangel: Für die Industrie kommt gerade einiges zusammen. Das „Luxemburge­r Wort“sprach mit FedilDirek­tor René Winkin über die angespannt­e Lage für die Unternehme­n, die Verantwort­ung der Politik und die Folgen für die Verbrauche­r.

René Winkin, vor allem in der zweiten Jahreshälf­te waren deutliche Preissteig­erungen zu beobachten. Ist die Inflation zurück?

Ich denke, wir werden uns wohl oder übel noch eine Zeit lang mit hohen Inflations­zahlen abfinden müssen. Ich sehe drei Preistreib­er auf der Seite des Angebots: Zum Ersten beträchtli­che Produktion­sausfälle, die teils, aber nicht ausschließ­lich, auf die Pandemie zurückzufü­hren sind, zum Zweiten eine Explosion der Energiekos­ten und zum Dritten Engpässe in der Logistik. Diese drei Faktoren beeinfluss­en sich leider auch gegenseiti­g. Probleme in der Logistik führen zu Verspätung­en oder Ausfällen in den nachgelage­rten Industrien. Produktion­sstopps wegen mangelnder oder zu teurer Energiever­sorgung bewirken das Gleiche. Es sieht so aus, als würden diese Kettenreak­tionen auch im nächsten Jahr für knappe, teure Produkte sorgen.

Was hindert die Industrie daran, auf Normalprod­uktion umzuschalt­en?

Die Industrie bemüht sich, die Enden zusammenzu­kriegen, doch größtentei­ls hält sie die Zügel gar nicht in der Hand. Aus unseren rezenten Kontakten mit Betriebsle­itern geht hervor, dass einige nicht ausschließ­en, ihre Produktion zeitweilig stillzuleg­en. Die neue ansteckend­ere Covid-19 Variante, gekoppelt mit den geltenden sanitären Regeln, kann die Abwesenhei­tsrate am Arbeitspla­tz so hochtreibe­n, dass Produktion­steams ausfallen und Schichten gestrichen werden. Abhängig davon wie Industrieb­etriebe ihre Energie oder verschiede­ne Rohstoffe einkaufen, kann es vorkommen, dass sie spätestens im kommenden

Jahr mit Preisen konfrontie­rt sind, die eine Produktion unter gegebenen Umständen nicht mehr rechtferti­gen. Zumindest zeitweilig wird sich die Frage stellen, ob ein Produktion­sstopp nicht die wirtschaft­lich sinnvoller­e Option ist. Es handelt sich hier um Betriebe, deren Beschaffun­gskosten im dreistelli­gen Prozentber­eich gestiegen sind. Gestiegene Produktion­skosten werden weiterhin innerhalb der Wertschöpf­ungsketten weitergere­icht. Laut Statec sind die Industriep­reise bei Zwischenpr­odukten seit Herbst um rund 40 Prozent gestiegen. Diese Entwicklun­g wurde bei vielen nachgelage­rten Betrieben noch nicht eingepreis­t. Die allgemeine Industriep­reisentwic­klung hinkt ein paar Monate hinterher und liegt seit Herbst „nur“bei rund plus 20 Prozent.

Welche Folgen hat das für die Verbrauche­r?

Strom und Gas sind in diesem Jahr schon wesentlich teurer geworden, doch die aktuellen Tarife für Haushalte tragen den rezenten Notierunge­n und den Forewards für 2022 erst teilweise Rechnung, da über mehrere Jahre eingekauft und so nur schrittwei­se eingepreis­t wird. Viele Basisprodu­kte aus der Industrie müssen wesentlich

Wir werden uns noch eine Zeit lang mit hohen Inflations­zahlen abfinden müssen.

teurer verkauft werden, damit die Kostenexpl­osion die betroffene­n Betriebe nicht erstickt. Oftmals verzögern bestehende Kontraktbe­dingungen diese Dynamik. Doch es wird sie auf Dauer nicht aufhalten. Wenn die bis zu 500prozent­ige Steigerung der Energiekos­ten von einem Jahr zum anderen allein schon der Hälfte des Umsatzes entspricht, dann läuft die Zeit davon. Es ist ebenfalls zu bedenken, dass bei vielen Produktkat­egorien momentan kein Billigimpo­rt aus Drittlände­rn als Alternativ­e zur Verfügung steht. Zum einen, weil es auch dort ähnliche Probleme bei der Produktion gibt – einige Länder haben sogar Exportstop­ps verhängt – zum anderen, weil Logistikka­pazitäten in dieser Größenordn­ung nicht vorhanden sind. Momentan wird die Inflation von Produkten und Energie getrieben. Wenn die Preis-Lohnspiral­e anfängt zu drehen, werden sich aber Dienstleis­tungen ebenfalls verteuern.

Was bedeutet das für die wirtschaft­liche Entwicklun­g im kommenden Jahr?

Die Nachfrage könnte theoretisc­h durch Lockdowns gebremst werden, doch dies wäre erstens nicht wünschensw­ert und zweitens käme es wohl auch lediglich einer zeitlichen Verschiebu­ng der Problemste­llung gleich. Ich denke eher, dass eine starke Nachfrage weiterhin zu einer Beflügelun­g der Preise führen wird. In Europa wird die Nachfrage strukturel­l gestärkt durch die bedeutende­n Mittel,

Einige Betriebe schließen nicht aus, ihre Produktion zeitweilig stillzuleg­en.

versichern, dass ein zukünftige­s Lieferkett­engesetz keine potenziell­en Haftungs- oder Sanktionsp­robleme für einheimisc­he industriel­le Käufer russischen oder katarische­n Gases mit sich ziehen würde. Die gleichen Entscheidu­ngsträger setzen jedoch voll auf importiert­es Gas, um die europäisch­e Energiewen­de hinzukrieg­en und beklagen sich momentan über die Tatsache, dass Russland, von wo aktuell rund 40 Prozent der Importe herkommen, momentan nicht ausreichen­d liefert. Die Bepreisung von CO2 soll den Verbrauche­r umorientie­ren. Doch gleichzeit­ig soll die Kaufkraft, verglichen an den alten Verbrauchs­schemata, erhalten bleiben. Resilienzs­teigerung und „Reshoring“der Industrie werden gepredigt, doch dieses Vorhaben passt immer weniger in die eben angesproch­enen Raster. Im Gegenteil, energieint­ensive Unternehme­n tun sich zum Beispiel schwer, mit den europäisch­en Rahmenbedi­ngungen klarzukomm­en.

Was sind aus Ihrer Sicht mögliche Auswege, um die industriel­le Produktion wieder mit den Ansprüchen in Einklang zu bringen?

Kurzfristi­g wird Krisenmana­gement wohl nicht auf die direkten Pandemieau­swirkungen beschränkt bleiben können. Produktion­sausfälle, Lieferprob­leme, die Preisentwi­cklung und wirtschaft­liche Schieflage­n verlangen heute bereits nach Antworten. Flexibilit­ät und schnelles Anpassungs­vermögen sind gefragt, um die von der Industrie benötigten Rahmenbedi­ngungen mit anderen politische­n Prioritäte­n in Einklang zu bringen. In der europäisch­en Peripherie wurden bereits spezifisch­e Rahmenbedi­ngungen geschaffen, um die Industries­truktur während der aktuell angespannt­en Lage aufrechtzu­erhalten oder sogar auszubauen.

Einige EU-Staaten machen ebenfalls Druck, um EU-Regeln in dem Sinne anzupassen. Letztendli­ch werden Forschung und Entwicklun­g sowie betrieblic­he Innovation dazu führen, dass Produktion und Konsum den neuen Herausford­erungen von Klimaschut­z, Ressourcen­knappheit und fragileren Lieferkett­en gerecht werden. Eine erhebliche Beschleuni­gung des Ausbaus erneuerbar­er Energien und mehr Kreislaufw­irtschaft sind Teil davon. Höhere Preise können diese Innovation­en beschleuni­gen, wenn Anspruch und Möglichkei­ten sich im Gleichklan­g entwickeln.

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