„Das Schiff ist überladen“
Fedil-Direktor René Winkin über die aktuell schwierige Lage der Luxemburger Industrie
Eine Pandemie, Engpässe in den Lieferketten, deutlich gestiegene Energiepreise, Kampf gegen den Klimawandel, dazu der sich seit Jahren verschärfende Fachkräftemangel: Für die Industrie kommt gerade einiges zusammen. Das „Luxemburger Wort“sprach mit FedilDirektor René Winkin über die angespannte Lage für die Unternehmen, die Verantwortung der Politik und die Folgen für die Verbraucher.
René Winkin, vor allem in der zweiten Jahreshälfte waren deutliche Preissteigerungen zu beobachten. Ist die Inflation zurück?
Ich denke, wir werden uns wohl oder übel noch eine Zeit lang mit hohen Inflationszahlen abfinden müssen. Ich sehe drei Preistreiber auf der Seite des Angebots: Zum Ersten beträchtliche Produktionsausfälle, die teils, aber nicht ausschließlich, auf die Pandemie zurückzuführen sind, zum Zweiten eine Explosion der Energiekosten und zum Dritten Engpässe in der Logistik. Diese drei Faktoren beeinflussen sich leider auch gegenseitig. Probleme in der Logistik führen zu Verspätungen oder Ausfällen in den nachgelagerten Industrien. Produktionsstopps wegen mangelnder oder zu teurer Energieversorgung bewirken das Gleiche. Es sieht so aus, als würden diese Kettenreaktionen auch im nächsten Jahr für knappe, teure Produkte sorgen.
Was hindert die Industrie daran, auf Normalproduktion umzuschalten?
Die Industrie bemüht sich, die Enden zusammenzukriegen, doch größtenteils hält sie die Zügel gar nicht in der Hand. Aus unseren rezenten Kontakten mit Betriebsleitern geht hervor, dass einige nicht ausschließen, ihre Produktion zeitweilig stillzulegen. Die neue ansteckendere Covid-19 Variante, gekoppelt mit den geltenden sanitären Regeln, kann die Abwesenheitsrate am Arbeitsplatz so hochtreiben, dass Produktionsteams ausfallen und Schichten gestrichen werden. Abhängig davon wie Industriebetriebe ihre Energie oder verschiedene Rohstoffe einkaufen, kann es vorkommen, dass sie spätestens im kommenden
Jahr mit Preisen konfrontiert sind, die eine Produktion unter gegebenen Umständen nicht mehr rechtfertigen. Zumindest zeitweilig wird sich die Frage stellen, ob ein Produktionsstopp nicht die wirtschaftlich sinnvollere Option ist. Es handelt sich hier um Betriebe, deren Beschaffungskosten im dreistelligen Prozentbereich gestiegen sind. Gestiegene Produktionskosten werden weiterhin innerhalb der Wertschöpfungsketten weitergereicht. Laut Statec sind die Industriepreise bei Zwischenprodukten seit Herbst um rund 40 Prozent gestiegen. Diese Entwicklung wurde bei vielen nachgelagerten Betrieben noch nicht eingepreist. Die allgemeine Industriepreisentwicklung hinkt ein paar Monate hinterher und liegt seit Herbst „nur“bei rund plus 20 Prozent.
Welche Folgen hat das für die Verbraucher?
Strom und Gas sind in diesem Jahr schon wesentlich teurer geworden, doch die aktuellen Tarife für Haushalte tragen den rezenten Notierungen und den Forewards für 2022 erst teilweise Rechnung, da über mehrere Jahre eingekauft und so nur schrittweise eingepreist wird. Viele Basisprodukte aus der Industrie müssen wesentlich
Wir werden uns noch eine Zeit lang mit hohen Inflationszahlen abfinden müssen.
teurer verkauft werden, damit die Kostenexplosion die betroffenen Betriebe nicht erstickt. Oftmals verzögern bestehende Kontraktbedingungen diese Dynamik. Doch es wird sie auf Dauer nicht aufhalten. Wenn die bis zu 500prozentige Steigerung der Energiekosten von einem Jahr zum anderen allein schon der Hälfte des Umsatzes entspricht, dann läuft die Zeit davon. Es ist ebenfalls zu bedenken, dass bei vielen Produktkategorien momentan kein Billigimport aus Drittländern als Alternative zur Verfügung steht. Zum einen, weil es auch dort ähnliche Probleme bei der Produktion gibt – einige Länder haben sogar Exportstopps verhängt – zum anderen, weil Logistikkapazitäten in dieser Größenordnung nicht vorhanden sind. Momentan wird die Inflation von Produkten und Energie getrieben. Wenn die Preis-Lohnspirale anfängt zu drehen, werden sich aber Dienstleistungen ebenfalls verteuern.
Was bedeutet das für die wirtschaftliche Entwicklung im kommenden Jahr?
Die Nachfrage könnte theoretisch durch Lockdowns gebremst werden, doch dies wäre erstens nicht wünschenswert und zweitens käme es wohl auch lediglich einer zeitlichen Verschiebung der Problemstellung gleich. Ich denke eher, dass eine starke Nachfrage weiterhin zu einer Beflügelung der Preise führen wird. In Europa wird die Nachfrage strukturell gestärkt durch die bedeutenden Mittel,
Einige Betriebe schließen nicht aus, ihre Produktion zeitweilig stillzulegen.
versichern, dass ein zukünftiges Lieferkettengesetz keine potenziellen Haftungs- oder Sanktionsprobleme für einheimische industrielle Käufer russischen oder katarischen Gases mit sich ziehen würde. Die gleichen Entscheidungsträger setzen jedoch voll auf importiertes Gas, um die europäische Energiewende hinzukriegen und beklagen sich momentan über die Tatsache, dass Russland, von wo aktuell rund 40 Prozent der Importe herkommen, momentan nicht ausreichend liefert. Die Bepreisung von CO2 soll den Verbraucher umorientieren. Doch gleichzeitig soll die Kaufkraft, verglichen an den alten Verbrauchsschemata, erhalten bleiben. Resilienzsteigerung und „Reshoring“der Industrie werden gepredigt, doch dieses Vorhaben passt immer weniger in die eben angesprochenen Raster. Im Gegenteil, energieintensive Unternehmen tun sich zum Beispiel schwer, mit den europäischen Rahmenbedingungen klarzukommen.
Was sind aus Ihrer Sicht mögliche Auswege, um die industrielle Produktion wieder mit den Ansprüchen in Einklang zu bringen?
Kurzfristig wird Krisenmanagement wohl nicht auf die direkten Pandemieauswirkungen beschränkt bleiben können. Produktionsausfälle, Lieferprobleme, die Preisentwicklung und wirtschaftliche Schieflagen verlangen heute bereits nach Antworten. Flexibilität und schnelles Anpassungsvermögen sind gefragt, um die von der Industrie benötigten Rahmenbedingungen mit anderen politischen Prioritäten in Einklang zu bringen. In der europäischen Peripherie wurden bereits spezifische Rahmenbedingungen geschaffen, um die Industriestruktur während der aktuell angespannten Lage aufrechtzuerhalten oder sogar auszubauen.
Einige EU-Staaten machen ebenfalls Druck, um EU-Regeln in dem Sinne anzupassen. Letztendlich werden Forschung und Entwicklung sowie betriebliche Innovation dazu führen, dass Produktion und Konsum den neuen Herausforderungen von Klimaschutz, Ressourcenknappheit und fragileren Lieferketten gerecht werden. Eine erhebliche Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien und mehr Kreislaufwirtschaft sind Teil davon. Höhere Preise können diese Innovationen beschleunigen, wenn Anspruch und Möglichkeiten sich im Gleichklang entwickeln.