Alte Strickmuster neuer Schwurbler
Michael Butter gibt kurz vor seinem Vortrag im Cercle Cité Einblicke in die Geschichte der Verschwörungserzählungen
Die Bezeichnung „Schwurbler/Schwurblerin“hat es auf die Liste zum „Wuert vum Joer 2021“geschafft. Warum haben es Verschwörungstheoretiker scheinbar so einfach, Gehör zu finden? Professor Michael Butter lehrt Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen und leitet ein europäisches Forschungsprojekt zu Verschwörungsnarrativen. Am 5. Januar 2022 erklärt in einem Vortrag im Cercle Cité, welche alten Mechanismen hinter scheinbar neuen Erzählungen stecken.
Michael Butter, Sie haben schon weit vor den Pandemie-Zeiten ein Buch zu Verschwörungserzählungen veröffentlicht. Tritt für Sie das ein, was Sie schon in Ihrem Buch quasi vorgezeichnet haben?
Es ist sehr wenig in den letzten zwei Jahren passiert, was mich wirklich überrascht hat. Die Verschwörungserzählungen, die zu Corona im Umlauf sind, folgen letztendlich eigentlich immer den Mustern, die wir schon aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten kennen. Es gibt da keine wirklich neuen Verschwörungstheorien.
Und doch hat man den Eindruck, dass das so sei ...
Coronamythen sind im Grunde nur an bereits existierende Verschwörungsnarrative angebaut worden. Also zum Beispiel zur angeblichen gezielten Islamisierung Europas, zur angeblichen Abschaffung des Bargeldes, zum Impfen oder dass uns unsere Grundrechte weggenommen werden sollen. Wer auch immer dahintersteckt – darauf gibt es keine eindeutigen Forschungsergebnisse und Einigung unter den
Forschern –, nutzt die Krise der Pandemie, um andere Interessen breiter zu streuen. Insofern ist es eher so, dass Corona das letzte Kapitel bereits längerer Verschwörungsnarrative ist.
Aber warum sind Menschen überhaupt dafür so empfänglich? Warum erreichen die Erzählungen ein großes Publikum?
Als Allererstes muss man klarstellen: Verschwörungstheorien sind heutzutage deutlich weniger populär als die, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts oder in den vergangenen Jahrhunderten verbreitet waren. Es war einmal völlig normal, an Verschwörungstheorien zu glauben. Und das war auch die Überraschung am Beginn meiner Forschungen. Das war ein absolut gängiger Eliten-Diskurs. Die klügsten Köpfe ihrer Zeit taten das. Und hätte es damals Umfragen wie heute – ob 1921 oder 1821 – gegeben, wäre man auf viel, viel größere Zustimmungsraten zu Narrativen gekommen, als man das heute tut. Aber weil es heute eben nicht mehr normal ist, an Verschwörungstheorien zu glauben, empfinden wir sie zunehmend als Problem. Und deshalb sind Verschwörungstheorien im Alltagsdiskurs so präsent.
Und wie sehen Sie die Rolle der
Michael Butter lehrt an der Uni Tübingen.
Sozialen Medien und MessengerDienste wie Telegram?
Verschwörungsnarrative sind nicht erst durch das Aufkommen von sozialen Medien und Diensten wie Telegram besonders verbreitet, sondern haben durch das Aufkommen des Internets generell zwar nicht sprunghaft, aber doch sichtbarer zugenommen. Das heißt, in den 1960er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahren schwammen sie sozusagen unter dem Radar der Öffentlichkeit. Durch das Internet sah und sieht man auf einmal, was es da für Leute gibt, die absurde Dinge glauben. Es folgte der öffentliche Diskurs über Verschwörungstheorien, der seitdem immer intensiver geworden ist; und der in der Coronakrise an Dringlichkeit noch einmal gewonnen hat.
Aber warum werden die Narrative so leichtfertig und offenbar faktenresistent geglaubt?
Die Antwort für vergangene Jahrhunderte ist: weil es jeder tut. Weil es völlig normal ist; weil man denkt, die Welt funktioniert so. Wenn ihnen alle immer erzählen – Eltern, Lehrer, Freunde und die klügsten Köpfe ihrer Zeit –, die Erde sei flach, dann glauben sie das auch. Es lohnt es sich heute dennoch, auch nach den Funktionen von Verschwörungstheorien zu fragen.
Und diese Funktionen sind?
Verschwörungstheorien haben eine vermeintliche Eindeutigkeit. Und wenn Narrative erst einmal etabliert wurden, dann ändert sich das eigentlich überhaupt nicht mehr; wer am Anfang schuldig war, der ist dann eben auch später. Verschwörungserzählungen – da ist sich die psychologische Forschung relativ einig – sind in der westlichen Welt in der Gegenwart besonders attraktiv für zwei Sorten von Menschen.
Und die sind?
Da sind zum einen Menschen, die schlecht mit Unsicherheit umgehen können und die nach Eindeutigkeit streben. Und es sind Menschen, die das Gefühl haben, einen Macht- und Kontrollverlust erlitten zu haben. Das Entscheidende ist das Gefühl. Menschen, die die Eindrücke haben, „mir schwimmen die Felle davon“, „ich werde nicht gehört“, „für mich interessiert sich niemand“, neigen dazu, sich das dann über große Verschwörungen zu erklären. Ihnen liefert das nicht nur eine Erklärung, warum vermeintlich gegen ihre Interessen gehandelt wird, sondern es gibt ihnen auch ein Stück weit Kontrolle zurück, weil sie dann scheinbar verstanden haben, was da vor sich geht.
Das größte Problem dabei ist doch, wenn aus dem Glauben auch radikalisiertes Handeln folgt und plötzlich Angriffe auf Politiker oder andere vermeintliche Schuldige stattfinden ...
Wir haben schon immer erlebt, dass Leute auf Grundlage des Glaubens an Verschwörungstheorien gewalttätig geworden sind. Das schlimmste Beispiel dafür finden wir in der deutschen Geschichte mit dem Holocaust, der letztendlich auf einer Verschwörungstheorie basiert; nämlich der von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung. Natürlich sind nicht alle Verschwörungstheorien gefährlich – und auch garantiert nicht alle Menschen, die an Verschwörungsnarrative glauben. Aber es gibt Aspekte an den Narrativen, die sie in bestimmten Situationen gefährlich machen können – als Katalysator. Denn wenn jemand glaubt, dass da vor seinen Augen ein riesiges Komplott stattfindet, das seinen Interessen und denen seines Landes und seiner Gruppe komplett zuwiderläuft, dann kann er sich ja nicht nur berechtigt fühlen, sondern sogar verpflichtet fühlen gegen dieses Komplott vorzugehen. Dann kann es vorkommen, dass Menschen zur Waffe greifen. Das haben wir bei den Angriffen in Christchurch gesehen, bei Anders Breivik in Norwegen oder vor ein paar Wochen in IdarOberstein, als ein Tankwart erschossen wurde, weil er den späteren Täter auf das Tragen einer Schutzmaske hingewiesen hat. Angesichts der Tatsache aber, dass Verschwörungstheorien nur von einer signifikanten Minderheit der Bevölkerung geglaubt werden, ist das zum Glück nicht so häufig.
Aber es ist schon ein Unterschied, wenn sie zur Gefahr für breite Bevölkerungsteile werden ...
Wer etabliertes medizinisches Wissen als Teil eines Komplotts abtut, der gefährdet einfach sich und andere. Wer Hygieneregeln nicht einhält – vielleicht sogar als Form von zivilem Ungehorsam bewusst verletzt –, trägt dazu bei, dass das Corona-Virus sich weiter verbreitet. Verschwörungstheorien können zudem eine Gefahr für die Demokratie sein.
Inwiefern?
Weil sie das Vertrauen in demokratische Prozesse und Institutionen schwer beschädigen können. Insbesondere, wenn sie dann auch noch von populistischen Politikerinnen und Politikern aufgegriffen und verbreitet werden. Das führt dann nicht nur zu Politikverdrossenheit, sondern auch dazu, dass Menschen gegen demokratische Institutionen vorgehen und demokratische Prozesse stören, weil sie glauben, in einer Scheindemokratie zu leben. Das sehen wir in Ansätzen bei der Querdenker-Bewegung in Deutschland oder haben wir noch extremer beim Sturm auf das Kapitol in Washington erlebt.
Warum ist es so schwer, Verschwörungsnarrative zu entkräften. Oder besser: Wie könnten sie ganz verhindert werden?
Also das komplette Entkräften ist das schwerste; Fakten helfen bei Zweiflern. Aber die, die tief an eine Verschwörungstheorie glauben, glauben in aller Regel auch schon an andere Erzählungen. Sie haben sich quasi längst aus dem Mainstream-Diskurs verabschiedet, vertrauen den institutionalisierten Wissenschaften und den Medien nicht mehr. Da braucht es eine emotional-direkte Beziehung – und es ist ein sehr schmerzhafter, sehr langwieriger und nicht immer von Erfolg gekrönter Weg. Es hilft, wenn man über Verschwörungstheorien aufklärt; wenn Leute wissen, wie Verschwörungstheorien funktionieren, sinkt die Zustimmung rapide. Und natürlich kann ein Weg sein, die Teilhabe in der Gesellschaft zu verbessern, für soziale Reformen, für Bildung und Wissenstransfer zu sorgen. Doch dieser Weg ist sehr teuer für eine Gesellschaft und deswegen auch politisch schwer umzusetzen.
Vortrag am 5. Januar 2022 um 18 Uhr im Cercle Cité, im Rahmen des Ausstellungsprogramms rund um „Gleef dat net...!” des Stadtgeschichtsmuseums, Anmeldung erforderlich unter Tel. 4796-4500 oder per E-Mail an die Adresse: visites@2musees.vdl.lu .
Coronamythen sind im Grunde nur an bereits existierende Verschwörungsnarrative angebaut worden.
Michael Butter: „Nichts ist wie es scheint“, Suhrkamp Verlag, 271 Seiten, ISBN:978-3-51807360-5, 18 Euro.