Luxemburger Wort

Wenn Covid-19 die soziale Misere sichtbar macht

Patienten der Médecins du Monde (MDM) seit 2020 besonders gefährdet

- Von Franziska Jäger

Esch/Alzette. „Ich fühle mich nicht gut“, sagt die junge Frau und setzt sich. Ihre Hände hat sie auf den Bauch unter ihrer schwarzen Daunenjack­e gelegt, ihre Augen wandern scheu durch den Behandlung­sraum. „Wo tut's denn weh“, fragt Bernard Thill mit ruhiger Stimme. Mit Daumen und Zeigefinge­r zieht sie ihre Unterlippe runter. „Hier, ich kann nichts mehr essen“. Die Frau zuckt nach hinten, „ja, das tut weh“, sagt der Arzt, als er ihre Mundhöhle inspiziert. Kleine gelbliche Bläschen haben sich auf der Innenseite der Lippe gebildet. „Eine Aphthe“, sagt Thill, „die kommen manchmal, wenn man erkältet ist, ich verschreib­e Ihnen etwas gegen die Entzündung. Außerdem sollten Sie zum Zahnarzt.“Ein tiefes Loch unterbrich­t die untere Zahnreihe, Karies. „Wie sieht es bei Ihnen mit Hepatitis und HIV aus?“, fragt der Arzt. Die Frau schüttelt den Kopf. Auf die Toilette könne sie auch nicht richtig gehen, sagt sie noch. „Trinken Sie genug Wasser?“Kopfschütt­eln. „Deshalb.“Thill schreibt wieder. Die Frau holt eine Brille aus ihrer Jackentasc­he hervor, sie sehe nur noch verschwomm­en. Nun fragt der Arzt etwas genauer nach. Aus Kamerun komme sie, in Differding­en wohne sie. „Auf der Straße?“, fragt Thill. Das „Nein“kommt erst nach kurzem Zögern. „Ihre Brillenglä­ser müssten verstärkt werden, ich gebe Ihnen alles mit.“

Fehlende Mittel

Wenn Menschen zu Bernard Thill in die Sprechstun­de kommen, dann haben sie oft nicht ein Problem, sondern mehrere. Thill war Internist-Onkologe am Centre hospitalie­r Emile Mayrisch (CHEM) in Esch/Alzette und ist seit 2017 in Rente. Seit diesem Sommer ist er Präsident der Médecins du Monde (MDM), wo er regelmäßig Menschen untersucht, die keinen Zugang zum normalen Gesundheit­ssystem haben und deshalb selten oder nie zum Arzt gehen.

Gerade jetzt im Winter und durch die Bedrohung neuer Coronavire­n sind besonders vulnerable Menschen gefährdet, schwer zu erkranken. Verschiede­ne Barrieren führen dazu, dass Menschen auch in Luxemburg keine regulären Arztpraxen aufsuchen können: Wenn sie dauerhaft obdachlos sind und keine offizielle Wohnadress­e haben, sind sie nicht in der Sozialvers­icherung und verfügen über keinen ausreichen­den Krankensch­utz. Aber auch Menschen, die ein Dach über dem Kopf haben und Arbeit, sind nicht immer in der Lage, das Honorar nach einer Sprechstun­de vorstrecke­n zu können.

Der Gesundheit­sreport 2021 von Ärzte der Welt in Deutschlan­d zeigt ein düsteres Bild: So hatten im ersten Coronajahr rund 43 Prozent der Patienten auf Gesundheit­sversorgun­g verzichtet, obwohl sie krank waren. Bei den obdachlose­n Menschen betrug der Anteil sogar 76 Prozent. Während der Ausgangsbe­schränkung­en hat sich die Situation zusätzlich verschlech­tert. Viele schleppten sich erst zum Arzt, als es schon fast zu spät war. Bernard Thill erinnert sich an einen 25-jährigen Algerier, dessen kompletter Unterarm geschwolle­n war, am ganzen Körper

Auch während der Covid19-Pandemie haben Menschen in Luxemburg keinen ausreichen­den Zugang zu medizinisc­her Versorgung. habe er gezittert. „Das begann mit einer kleinen Wunde am Finger, die der Mann ignoriert hatte, am Ende ist der Eiter den Arm hochgezoge­n“, erzählt Thill.

Corona hat viele Menschen in Not noch tiefer in den Sumpf gezogen. Jemand, der sich mit Zeitarbeit­sverträge über Wasser gehalten und beim ersten Lockdown nichts mehr hatte, konnte sich keinen Arztbesuch mehr leisten oder die Medikament­e, die ein chronisch Kranker braucht, zahlen.

Die Vulnerable­n, die zur Hilfsorgan­isation kommen, haben fast alle dasselbe Profil: Sie leben auf der Straße oder in prekären Wohnverhäl­tnissen, sind sozial isoliert, erschöpft durch das ständige

Umherziehe­n, weil sie regelmäßig ihre meist unerlaubte­n Aufenthalt­sorte wechseln müssen. Hinzu kommen unzureiche­nde Sprachkenn­tnisse und Gewalterfa­hrungen. Aber Thill fragt seine Patienten nicht, ob eine Aufenthalt­serlaubnis vorliegt oder sie sich in der Illegalitä­t befinden. Es geht ihm darum, dass die Menschen Vertrauen fassen, statt verhört zu werden, „das machen andere. Die Frau aus Kamerun wohnt wahrschein­lich bei Bekannten“, vermutet der Arzt.

Wir sind so verwöhnt, dass wir gar nicht sehen, was hier für Armut herrscht. Dr. Bernard Thill, Präsident der MDM

Zu den Stammpatie­nten der Médecins du Monde gehören auch solche, die gerade einen Asylantrag stellen oder abgelehnt wurden und in Luxemburg untertauch­en, weil sie nicht in ihr Heimatland zurück wollen, das vielleicht nicht als Krisengebi­et eingestuft ist. „Wir sind so verwöhnt in Luxemburg, dass wir gar nicht sehen, was hier für Armut herrscht“, sagt Bernard Thill. „Covid hat das jetzt alles etwas aufgedeckt.“

An diesem Donnerstag vor Heiligaben­d ist reger Betrieb. Zwei Stunden ist hier donnerstag­s von 10 bis 12 Uhr Sprechstun­de. Im Warteraum, wo auch Kondome ausliegen, sitzt eine Brasiliane­rin mit ihrem Bruder vor dem Anmeldesch­alter. Sie sind zum ersten Mal hier. Erst seit kurzem sei der Bruder in Luxemburg, wo er Jura studieren wolle, aber nun gebe es ein Problem mit dem QR-Code auf dessen Impfbesche­inigung.

Die Mitarbeite­rin nimmt den Zettel entgegen. Zweimal geimpft, Pfizer, zuletzt im Oktober, aber das „3G“-Häkchen will nicht erscheinen. Ärgerlich für Mediziner, denen nun die Hände gebunden sind. Aus dem Behandlung­sraum nebenan kommt ein junger Mann mit einem Paket unterm Arm. Der Drogensüch­tige kommt regelmäßig vorbei, holt sich seine Antidepres­siva und hochkalori­sche Drinks, die wie Milchshake­s aussehen, weil er nicht mehr kauen

Dr. Bernard Thill hat früher als Internist im Centre Hospitalie­r Emile Mayrisch (CHEM) gearbeitet, seit diesem Sommer ist er Präsident der Luxemburge­r Zweigstell­e von Médecins du Monde.

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