Wenn Covid-19 die soziale Misere sichtbar macht
Patienten der Médecins du Monde (MDM) seit 2020 besonders gefährdet
Esch/Alzette. „Ich fühle mich nicht gut“, sagt die junge Frau und setzt sich. Ihre Hände hat sie auf den Bauch unter ihrer schwarzen Daunenjacke gelegt, ihre Augen wandern scheu durch den Behandlungsraum. „Wo tut's denn weh“, fragt Bernard Thill mit ruhiger Stimme. Mit Daumen und Zeigefinger zieht sie ihre Unterlippe runter. „Hier, ich kann nichts mehr essen“. Die Frau zuckt nach hinten, „ja, das tut weh“, sagt der Arzt, als er ihre Mundhöhle inspiziert. Kleine gelbliche Bläschen haben sich auf der Innenseite der Lippe gebildet. „Eine Aphthe“, sagt Thill, „die kommen manchmal, wenn man erkältet ist, ich verschreibe Ihnen etwas gegen die Entzündung. Außerdem sollten Sie zum Zahnarzt.“Ein tiefes Loch unterbricht die untere Zahnreihe, Karies. „Wie sieht es bei Ihnen mit Hepatitis und HIV aus?“, fragt der Arzt. Die Frau schüttelt den Kopf. Auf die Toilette könne sie auch nicht richtig gehen, sagt sie noch. „Trinken Sie genug Wasser?“Kopfschütteln. „Deshalb.“Thill schreibt wieder. Die Frau holt eine Brille aus ihrer Jackentasche hervor, sie sehe nur noch verschwommen. Nun fragt der Arzt etwas genauer nach. Aus Kamerun komme sie, in Differdingen wohne sie. „Auf der Straße?“, fragt Thill. Das „Nein“kommt erst nach kurzem Zögern. „Ihre Brillengläser müssten verstärkt werden, ich gebe Ihnen alles mit.“
Fehlende Mittel
Wenn Menschen zu Bernard Thill in die Sprechstunde kommen, dann haben sie oft nicht ein Problem, sondern mehrere. Thill war Internist-Onkologe am Centre hospitalier Emile Mayrisch (CHEM) in Esch/Alzette und ist seit 2017 in Rente. Seit diesem Sommer ist er Präsident der Médecins du Monde (MDM), wo er regelmäßig Menschen untersucht, die keinen Zugang zum normalen Gesundheitssystem haben und deshalb selten oder nie zum Arzt gehen.
Gerade jetzt im Winter und durch die Bedrohung neuer Coronaviren sind besonders vulnerable Menschen gefährdet, schwer zu erkranken. Verschiedene Barrieren führen dazu, dass Menschen auch in Luxemburg keine regulären Arztpraxen aufsuchen können: Wenn sie dauerhaft obdachlos sind und keine offizielle Wohnadresse haben, sind sie nicht in der Sozialversicherung und verfügen über keinen ausreichenden Krankenschutz. Aber auch Menschen, die ein Dach über dem Kopf haben und Arbeit, sind nicht immer in der Lage, das Honorar nach einer Sprechstunde vorstrecken zu können.
Der Gesundheitsreport 2021 von Ärzte der Welt in Deutschland zeigt ein düsteres Bild: So hatten im ersten Coronajahr rund 43 Prozent der Patienten auf Gesundheitsversorgung verzichtet, obwohl sie krank waren. Bei den obdachlosen Menschen betrug der Anteil sogar 76 Prozent. Während der Ausgangsbeschränkungen hat sich die Situation zusätzlich verschlechtert. Viele schleppten sich erst zum Arzt, als es schon fast zu spät war. Bernard Thill erinnert sich an einen 25-jährigen Algerier, dessen kompletter Unterarm geschwollen war, am ganzen Körper
Auch während der Covid19-Pandemie haben Menschen in Luxemburg keinen ausreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung. habe er gezittert. „Das begann mit einer kleinen Wunde am Finger, die der Mann ignoriert hatte, am Ende ist der Eiter den Arm hochgezogen“, erzählt Thill.
Corona hat viele Menschen in Not noch tiefer in den Sumpf gezogen. Jemand, der sich mit Zeitarbeitsverträge über Wasser gehalten und beim ersten Lockdown nichts mehr hatte, konnte sich keinen Arztbesuch mehr leisten oder die Medikamente, die ein chronisch Kranker braucht, zahlen.
Die Vulnerablen, die zur Hilfsorganisation kommen, haben fast alle dasselbe Profil: Sie leben auf der Straße oder in prekären Wohnverhältnissen, sind sozial isoliert, erschöpft durch das ständige
Umherziehen, weil sie regelmäßig ihre meist unerlaubten Aufenthaltsorte wechseln müssen. Hinzu kommen unzureichende Sprachkenntnisse und Gewalterfahrungen. Aber Thill fragt seine Patienten nicht, ob eine Aufenthaltserlaubnis vorliegt oder sie sich in der Illegalität befinden. Es geht ihm darum, dass die Menschen Vertrauen fassen, statt verhört zu werden, „das machen andere. Die Frau aus Kamerun wohnt wahrscheinlich bei Bekannten“, vermutet der Arzt.
Wir sind so verwöhnt, dass wir gar nicht sehen, was hier für Armut herrscht. Dr. Bernard Thill, Präsident der MDM
Zu den Stammpatienten der Médecins du Monde gehören auch solche, die gerade einen Asylantrag stellen oder abgelehnt wurden und in Luxemburg untertauchen, weil sie nicht in ihr Heimatland zurück wollen, das vielleicht nicht als Krisengebiet eingestuft ist. „Wir sind so verwöhnt in Luxemburg, dass wir gar nicht sehen, was hier für Armut herrscht“, sagt Bernard Thill. „Covid hat das jetzt alles etwas aufgedeckt.“
An diesem Donnerstag vor Heiligabend ist reger Betrieb. Zwei Stunden ist hier donnerstags von 10 bis 12 Uhr Sprechstunde. Im Warteraum, wo auch Kondome ausliegen, sitzt eine Brasilianerin mit ihrem Bruder vor dem Anmeldeschalter. Sie sind zum ersten Mal hier. Erst seit kurzem sei der Bruder in Luxemburg, wo er Jura studieren wolle, aber nun gebe es ein Problem mit dem QR-Code auf dessen Impfbescheinigung.
Die Mitarbeiterin nimmt den Zettel entgegen. Zweimal geimpft, Pfizer, zuletzt im Oktober, aber das „3G“-Häkchen will nicht erscheinen. Ärgerlich für Mediziner, denen nun die Hände gebunden sind. Aus dem Behandlungsraum nebenan kommt ein junger Mann mit einem Paket unterm Arm. Der Drogensüchtige kommt regelmäßig vorbei, holt sich seine Antidepressiva und hochkalorische Drinks, die wie Milchshakes aussehen, weil er nicht mehr kauen
Dr. Bernard Thill hat früher als Internist im Centre Hospitalier Emile Mayrisch (CHEM) gearbeitet, seit diesem Sommer ist er Präsident der Luxemburger Zweigstelle von Médecins du Monde.