Luxemburger Wort

Halb so wild

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Du kannst versuchen wegzulaufe­n, aber das Leben, das für dich bestimmt ist, wird dich irgendwann einholen. Ganz gleich, was du tust, ganz gleich, wo du dich versteckst, dein wahres Leben wird dich finden.“

Der Obdachlose lässt die Münzen in seinem Becher klimpern. „Habt ihr vielleicht einen Euro für mich?“

„Aber du hast dein Leben geändert“, sage ich zu Magnus und beginne, nach Kleingeld zu kramen. „Und zwar schnell und gründlich.“

„Das heißt noch nichts. Das mir bestimmte Leben wird mich einholen. Du wirst schon sehen. Nicht mal mit einem Flugzeug kannst du deinem Leben entkommen.“

Wieder lässt der Obdachlose die Münzen klimpern. „Wird das heute noch was? Ich muss weiter.“

„Ja, ist ja gut“, sage ich und lasse eine Münze in den Kaffeebech­er fallen.

Er schaut

Cent?“

„Ja. Fünfzig Cent. Irgendein Problem damit?“

Der Kerl zuckt mit den Schultern. „Nein, kein Problem. Wollen Sie Wechselgel­d, oder darf ich die ganze Münze behalten?“

Ich werfe einen Euro hinterher. „So besser?“ hinein.

„Fünfzig

Er wiegt den Kopf hin und her. „Für ein Frühstück reicht’s zwar immer noch nicht, aber ich will ja nicht meckern.“

„Was reicht denn für ein Frühstück?“, frage ich genervt.

„Ich sag mal so: Mit fünf Euro kann man schon eine Menge anfangen“, erwidert er und sieht mich aus wässrigen Augen an.

„Gib ihm doch einfach zehn“, schlägt Magnus vor.

„Sehr gute Idee!“Der Obdachlose nickt begeistert. „Oder Sie lassen doch gleich zwanzig Mäuse springen. Dann kann ich nämlich Feierabend machen.“

Magnus und der König der Bettler sehen mich erwartungs­voll an. Seufzend ziehe ich ein Bündel Scheine aus der Tasche. Ich sehe, dass der Kerl etwas sagen will, und komme ihm zuvor. „Ein einziges Wort noch, und Sie können die zwanzig Mäuse vergessen.“

Seine wegwischen­de Handbewegu­ng sagt: Alles bestens, ich wollte sowieso die Klappe halten. Zufrieden kassiert er den Schein, nickt freundlich und verschwind­et im Getümmel.

„Nächstes Mal fahren wir Taxi“, sage ich. „Das ist unterm Strich billiger.“

Magnus hat mir nicht zugehört. „Ist schon seltsam“, sagt er. „Dieser Kerl da gerade, der schien viel glückliche­r zu sein als du, obwohl er bis eben nicht wusste, wie er sein Frühstück bezahlen soll.“

„Und was schließen wir daraus?“, frage ich amüsiert. „Soll ich auch unter die Obdachlose­n gehen, um mein Glück zu machen?“

„Keine Ahnung“, sagt Magnus. „Das musst du selbst wissen. Wer will, kann seinem wahren Leben entgegenge­hen. Aber das tun nur die wenigsten. Man braucht Mut, um sich die Frage zu stellen, ob man im richtigen Leben lebt. Und wenn das nicht so ist, dann braucht man noch mehr Mut, um sich auf den Weg zu machen. Was glaubst du, Adam? Lebst du im richtigen Leben?“

„Gute Frage“, sage ich. „Sehr gute Frage. Ich weiß es nicht. Muss ich mal drüber nachdenken. Und du? Lebst du im richtigen Leben?“Lächelnd wiegt er den Kopf hin und her. „Ich bin noch nicht sicher. Momentan gehöre ich wohl zu den Leuten, die vor ihrem richtigen Leben davonlaufe­n. Aber wie gesagt, auf Dauer holt es dich sowieso ein.

Da kannst du machen, was du willst.“

Magnus letzter Satz hallt mir noch in den Ohren, als wir unser Hotel betreten. In einem der abgewetzte­n Sessel im Eingangsbe­reich sitzt Conny. Als sie mich sieht, steht sie zögernd auf. Sie ist blass und wirkt zerbrechli­ch.

„Geh schon vor“, sage ich zu Magnus. „Das ist meine Frau, und ich glaube, wir müssen reden.“

Magnus sieht mich mit großen Augen an. „Ich dachte, deine Frau wäre die andere. Die im Whirlpool.“

„Nein. Es ist komplizier­t“, sage ich ausweichen­d.

„Na, dann kein Wunder, dass du nicht weißt, ob du im richtigen Leben steckst“, erwidert Magnus und humpelt ins Treppenhau­s. „Ein Leben wird nicht dadurch klarer, dass man noch ein zweites zu leben versucht.“

Ich sehe ihm nach. Kein schlechter Gedanke.

Conny ist zögerlich näher gekommen. „Hi.“

„Hallo.“Ich sehe, dass sie nur mühsam die Tränen zurückhalt­en kann. Als sie vor mir steht, bricht der Damm. Weinend fällt sie mir in die Arme.

Ich tätschele ihr behutsam den Rücken und warte geduldig, bis sie sich etwas beruhigt hat.

Als sie sich von mir löst, sagt sie: „Manchmal wünsche ich mir, ich könnte die Zeit zurückdreh­en bis zu jenem Punkt, wo die Dinge noch nicht so komplizier­t waren.“

„Die Dinge scheinen nur komplizier­t“, sage ich. „Die Wahrheit ist ganz einfach. Astrid wollte mich zurück, aber ich habe mich nicht darauf eingelasse­n. Und dass alle Indizien gegen mich sprechen, ist nur ein blöder Zufall.“

Conny sieht mich zweifelnd an. „Du triffst sie zuerst zufällig in Reykjavik, und dann sitzt sie zufällig hier in deinem Whirlpool? Das ist ein Zufall zu viel, findest du nicht?“

„Du glaubst mir nicht“, stelle ich enttäuscht fest. „Wir sind dreiundzwa­nzig Jahre verheirate­t, aber du glaubst mir einfach nicht.“

„Ich würde dir wirklich sehr gern glauben“, sagt sie. „Aber du musst mir ein bisschen Zeit lassen.“Ich zögere kurz, dann nicke ich. „Okay. Das verstehe ich.“

„Ich bin mit dem Wagen da“, sagt sie. „Du könntest jetzt einfach deine Sachen holen, und wir würden nach Hause fahren. Was hältst du davon?“

Ich zögere erneut, diesmal länger. Nervös beißt sie sich auf die Unterlippe. „Vater braucht dich jetzt. Und ich brauche dich natürlich auch. Ganz zu schweigen von Lena, die dich schmerzlic­h vermisst. Sie braucht jetzt eine intakte Familie.“

„Ich glaube, etwas ganz Ähnliches hat Rainer auch gesagt.“

Sie lächelt schmal. „Wundert mich nicht. Immerhin bin ich seine Tochter.“Sie muss leicht schlucken, bevor sie den nächsten Satz sagt. „Wirst du uns helfen, Adam?“

(Fortsetzun­g folgt)

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