Frankreich dreht durch
Nicht einmal 24 Stunden hat es gedauert, da hatte Frankreich bereits seine erste Kontroverse, die mit der angelaufenen EU-Ratspräsidentschaft des Landes zu tun hat. Um den Beginn dieser sechsmonatigen EU-Formalität zu markieren, hatte die Regierung den Pariser Triumphbogen zum Jahresauftakt mit einer Europaflagge geschmückt. Natürlich – und absolut harmlos, könnte man denken. Von wegen! Für alle Präsidentschaftskandidaten rechts von Emmanuel Macron (und auch einige Linke) ein klarer Fall von „Verrat am Vaterland“. Nun ist die Flagge bereits abgehängt und die Stimmung für den Wahlkampf um den Einzug in den Élysée-Palast, der während der EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs stattfindet, ist auch schon vorgezeichnet: blau-weiß-rot gefärbte rechte Dauerempörung.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die Europäische Union wird die sechs Monate unter Leitung eines Landes, das in einem toxischen Wahlkampf gefangen ist, überleben. Diplomaten und Experten erledigen in Brüssel ohnehin den Großteil der Arbeit. Der Erfolg einer EU-Présidence stellt sich in der Regel trotz und nicht wegen einer Regierung ein. Das Problem für den Staatenbund ist jedoch tiefgreifender. Dass im mächtigen Frankreich rechte Provokateure und Nationalisten den öffentlichen Diskurs derart dominieren, wird früher oder später auch auf die Union abfärben.
Das zeigt sich bereits an der europapolitischen Entwicklung von Präsident Macron. Kurz nach seiner Wahl 2017 ließ er sich zur „Ode an die Freude“vor dem Louvre feiern und kämpfte für eine finanziell solidarische EU, die ihre Bürger vor den Ungerechtigkeiten der wirtschaftlichen Globalisierung schützt. Der EU-Macron von 2022 ist dagegen ein ganz anderer. Der einstige liberale Wonderboy fordert nunmehr den konsequenten Schutz der EU-Außengrenzen und eine straffere europäische Verteidigungspolitik. Gewiss: Macron hat bereits einiges in puncto solidarischere EU erreicht – wie etwa die vergangene Bundesregierung davon zu überzeugen, dass ein gemeinsamer Corona-Wiederaufbauplan notwendig ist –, doch der Rechtsruck innerhalb des französischen Politikspektrums hat auch auf Macrons Benehmen in Brüssel einen unübersehbaren Einfluss. Innenpolitisch ist der Kontrast noch stärker: Der gleiche Macron, der sich 2017 gegenüber der Kolonialgeschichte Frankreichs kritisch zeigte, flirtet nunmehr mit islamophoben und rechtskonservativen Positionen.
Macrons Metamorphose zeigt, wie sich die EU und Frankreich in der Zeit zwischen 2017 und 2022 verändert haben. Im Staatenbund hat die existenzielle Frage – für oder gegen die EU – an Wichtigkeit verloren, da nicht einmal mehr die rechtspopulistische Marine Le Pen noch der rechtsextreme Eric Zemmour für einen Sofortaustritt Frankreichs aus dem Staatenbund werben. Gleichzeitig hat aber auch das Adjektiv „pro-europäisch“an Wert verloren. Weil die selbst ernannten Pro-Europäer wie Macron sich inhaltlich immer mehr von den Zemmours und Le Pens dieser Welt treiben lassen. 2022 genügt es demnach nicht mehr, die EU-Flagge zu hissen, um ein Zeichen gegen Rechtspopulismus zu setzen.
Der Rechtsruck in Frankreich hat auch einen Einfluss auf Emmanuel Macron.
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