Evergrande-Aktien vom Handel ausgesetzt
Peking möchte der Branche am Beispiel Evergrande eine Lehre erteilen, doch auf keinen Fall die soziale Stabilität gefährden
Als die boomende Immobilienbranche auf einer nicht enden wollenden Pfeilbewegung nach oben zu reiten schien, ließ der Branchenriese Evergrande direkt vor der Nordküste Hainans, Chinas tropischer Ferieninsel, einen künstlichen Archipel in Form einer aufblühenden Blume aufschütten. Ausgerechnet das schillernde Bauprojekt im Wert von über 20 Milliarden Euro droht nun, dem strauchelnden Marktriesen den endgültigen Dolchstoß zu verpassen: 39 riesige Apartmentanlagen muss Evergrande laut Berichten auf der „Ocean Flower Island“innerhalb von zehn Tagen abreißen lassen.
Der kolportierte Grund: Der Entwickler hatte die Baugenehmigungen illegal erworben. Möglicherweise hat dies die Hiobsbotschaft von gestern ausgelöst, als die Hongkonger Börse in einer knappen Stellungnahme die Suspendierung der Evergrande-Aktien bekanntgab. Aus der Firmenzentrale in Shenzhen ist zumindest bislang keine weitere Erklärung über die Hintergründe zu entlocken.
Ein Fünftel des Wohnbestands steht leer
Doch angesichts der jüngsten Entwicklungen von Evergrande kommt der Handelsstopp alles andere als überraschend: Letzten Dienstag soll der Konzern erneut eine Kupponzahlung in Höhe von über 250 Millionen Dollar verstreichen lassen haben. Zuvor hatten bereits zwei internationale Ratingagenturen den mit 300 Milliarden Dollar verschuldeten Immobilienriesen auf die Stufe „restricted default“herabgestuft – ein Schritt vor der vollständigen Zahlungsunfähigkeit.
Die gestern ausgesetzten Aktien haben im letzten Jahr eine einzige Talfahrt hingelegt: 90 Prozent Wertverlust innerhalb von zwölf Monaten. Tatsächlich ist der Niedergang von Evergrande vor allem eine Parabel über Gier und turbokapitalistischem Größenwahn.
Jahrzehntelang hatten Immobilienentwickler keinerlei Skrupel, sich mit immer massiveren Krediten zu übernehmen. Denn diese waren schließlich frei verfügbar – und im Notfall war man der Meinung, dass der Staat im Notfall aushelfen werde. Apartmentwohnungen wurden wie spekulative Waren gehandelt. Knapp ein Fünftel des chinesischen Wohnbestands soll derzeit leer stehen, weil die Preise für die Bevölkerung oftmals schlicht zu hoch sind. „Häuser werden gebaut, um bewohnt zu werden, und nicht für Spekulationen“, sagte Staatschef Xi Jinping beim letztjährigen Parteitag der Kommunistischen Partei.
Internationale Gläubiger bleiben wohl auf Zahlungen sitzen
Die Staatsführung regulierte die Schuldenquote sowie die Kreditvergabe – und brachte damit unweigerlich die überhitzte Branche ins Straucheln. Schadenfreude ist angesichts der Evergrande-Tragödie
aber fehl am Platz. Denn kolportiert 1,6 Millionen chinesischer Häuslebauer sitzen derzeit vor unfertigen Apartmentsiedlungen. Wahrscheinlich wird der Staat ihnen notfalls aus der Patsche helfen, denn Unruhen und Proteste möchte die Kommunistische Partei in jedem Fall vermeiden.
Die internationalen Gläubiger laufen hingegen höchste Gefahr, auf ihren ausstehenden Zahlungen sitzen zu bleiben. Der Immobilienmarkt wird in China zweifelsohne einen nachhaltigen Wandel durchlaufen. Am Sonntag publizierte die chinesische Zentralbank eine Studie, aus der hervorgeht, dass rund 56 Prozent aller Chinesen für das laufende Jahresquartal gleichbleibende Häuserpreise erwarten, über 15 Prozent gehen gar von sinkenden Preisen aus. Was in anderen Ländern eine Randnotiz wäre, ist in der Volksrepublik China überaus bemerkenswert. Denn jahrzehntelang war die Bevölkerung von der Illusion geblendet, dass – komme, was wolle – die Immobilien auf absehbare Zeit immer weiter an Wert gewinnen werden.
Neben einem Mangel an sicheren Anlagemöglichkeiten war dies auch der Hauptgrund, warum die Chinesen trotz der bereits absurd teuren Marktpreise ihr Erspartes weiterhin in den Immobiliensektor trugen, der mittlerweile laut Schätzungen bereits 29 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts ausmacht.
Rund dreiviertel des Wohlstands aus Privathaushalten ist in Immobilien geparkt.„Ich bin noch nicht bereit, den Immobiliensektor im Jahr 2022 abzuschreiben, weil ich erwarte, dass Peking und die lokalen Regierungen alles tun werden, um ihn zu stabilisieren“, kommentiert Michael Pettis, Ökonom an der renommierten Peking Universität, auf Twitter: „,Aber es ist ziemlich klar, dass 2021 das Vertrauen in die ständig steigenden Immobilienpreise gebrochen hat“.
Auszuschließen ist jedoch nicht, dass Evergrande doch noch einmal auf die Beine kommen könnte. Denn im Oktober wurde der Handel mit den Wertpapieren des größten chinesischen Baukonzerns wegen nicht bedienter Anleihezinsen schon einmal unterbrochen. Doch mittelfristig deutet alles darauf hin, dass die Tragödie rund um den am höchsten verschuldeten Immobilienentwickler der Welt kein schönes Ende nimmt.