Profan und tiefgründig
Essay-Doku über „Die Filmkunst in der Moderne“zelebriert das Kino als zeitloses Medium
Netflix ist immer wieder für eine Überraschung gut, selbst in der Art, wie es mit seiner marktbeherrschenden Rolle im weltweiten Film- und Streaming-Geschäft umgeht. Wer darin eine zumindest latente Gefahr für das mittel- bis langfristige Überleben von Qualitätsproduktionen außerhalb des auf Beliebigkeit orientierten filmischen Mainstreamkonsums befürchtet, sieht sich nun eines Besseren belehrt. Es zeugt von einer gewissen Größe und selbstreflexivem Umgang mit der eigenen kommerziellen Dominanz, dass der USAnbieter nun – gerade zu der an anspruchslosen Produktionen äußerst reichen Jahreszeit – auf seiner Plattform eine den Kinofilm als kulturelles Erlebnis hervorhebende
analysiert. Das Kino als zugleich emotionale und intellektuelle Erfahrung wie auch als Vektor einer essenziellen gesellschaftspolitischen Botschaft erfährt dabei, in persönlichen, auf jede akademische Distanz verzichtenden Beiträgen eine in dieser Form ungekannte, erfrischende Würdigung.
Über Emotionen, Helden und Geschichten
So schildert Sasha Stone, wie sie im Sommer des Jahres 1975 durch den faszinierenden Einfluss von „Jaws“(Steven Spielberg) erwachsen wurde: „Danach war nichts mehr wie früher. Kein Sommer, keine Filme, keine Strände, und nicht ich.“
Am Beispiel von „Lady Vengeance“(2005, Park Chan-Wook) analysiert Tony Zhou die Ethik der Rache in Kino-Filmen, die den Zuschauer immer wieder mit der Frage konfrontieren: Was würde ich in dieser Situation tun? Wie definiert man Sympathie? fragt hingegen Drew McWeeny in seinem Essay über „Lawrence of Arabia“(1962, David Linch) und nimmt die von Peter O’Toole verkörperte Hauptfigur unter die Lupe, „eine der interessantesten, kompliziertesten, frustrierendsten und fehlerhaftesten Figuren, die ich je in einem Film sah“, und die er dennoch „nicht mag“.
In die spezielle und nicht minder faszinierende Welt der Zeichentrickfilme und Computeranimationen führen Glenn Keane und Luís Gadea ein, indem sie über den in diesen Sparten maßgeblichen Sinn für Harmonie sprechen und die keinesfalls leichte Herausforderung, mit Strich und Mausklick „nichts Perfektes, sondern etwas Natürliches zu schaffen“.
Sehr anschaulich geht Taylor Ramos auf die inhaltlichen und handwerklichen Differenzen zwischen dem bildhaften Filmerlebnis im Kino und dem geschwätzigen Fernsehen zu Hause ein, eine lange Zeit fest etablierte Hierarchie, die erst mit der Serie „The Sopranos“(1999-2007, David Chase) und dem Aufbruch in die digitale Welt gebrochen wurde, sich letztlich aber wieder in der Erkenntnis resümiert, dass es eigentlich nur „auf die Geschichten ankommt, die deine Fantasie anregen, egal in welcher Form sie erscheinen.“
So profan und tiefgründig zugleich das Kino in seiner emotionalen und intellektuellen Wirkung sowie in der Vielfalt seiner narrativen und technischen Mittel sein kann – und als solches auch weiterhin ein fundamentales Ideal in jedem Ausdruck filmischen Schaffens bleibt –, so unverzichtbar ist es seit jeher in seiner Rolle als ein provokatives, politische Bildung förderndes und gesellschaftliche Prozesse anregendes Medium.
Den Bogen bis in die heutige Zeit schlagend schließt Walter Chaw in seinem Beitrag über „48 Hrs.“(1982) von Walter Hill – eine als „Meilenstein verkannte, anspruchsvolle, bisweilen sogar progressive Abhandlung über die Rassenbeziehungen in den USA“– diese in jeder Hinsicht unterhaltsame und wertvolle essayistische DokuReihe, die Filmkunst wohl in ihrer modernen Perspektive, nicht zuletzt aber auch in ihrer übergeordneten, prägenden Zeitlosigkeit würdigt.
„Voir: Die Filmkunst in der Moderne“ist als sechsteilige Essay-Serie auf Netflix abrufbar.