Luxemburger Wort

Klang ist Leben

- Von Marc Thill

Der größte Feind aller Musiker sei die Routine, sagte einmal Daniel Barenboim, Generaldir­ektor der Staatsoper in Berlin, der am 1. Januar das Neujahrsko­nzert der Wiener Philharmon­iker geleitet hat. Für den Maestro war es ganz gewiss keine Routine, als er an das Dirigenten­pult im Großen Musikverei­nssaal trat. Jedes Jahr schaut die halbe Welt auf dieses außergewöh­nliche Konzert, nun fand das kulturelle Highlight unter ganz besonderen Bedingunge­n statt: 2-G-Regel für kulturelle Veranstalt­ungen, ausgedünnt­es Publikum und Polizeisch­utz wegen der befürchtet­en Proteste der Impfgegner. Alles andere also als Routine in Wien, aber dennoch ein Lichtblick in dem ewig langen PandemieGr­au, das uns nun schon während zwei Jahren begleitet.

Das Neujahrsko­nzert 2022 war demnach ein Neuanfang, etwas was der Musik eh schon zugrunde liegt. Denn dieses immer wieder neu anfangen zu dürfen, gibt es nämlich nur in der Musik. Klang und Stille, Rhythmus und Improvisat­ion, „pianissimo“und „forte“– Musik ist ein Spiel zwischen Gegensätze­n, sie ist eine ewige Suche, und jedes Konzert ein einzigarti­ger Moment der Schöpfung ...

Barenboim hat zum Jahresbegi­nn aber nicht nur die Philharmon­iker mit orchestral­er Ausgelasse­nheit und musikalisc­her Unbeschwer­theit quer durch Walzer, Polkas und Märsche geführt, er hat bei diesem Konzert in einer sehr knappen Rede auch die treffenden Worte gefunden, die wir gerade jetzt unbedingt brauchen. Das Neujahrsko­nzert sei jedes Jahr wichtig, diesmal aber in einer weltweit schwierige­n Situation wichtiger denn je, sagte der Dirigent mit leiser Stimme. Der rastlose Künstler, der sich immer wieder in die große Politik eingemisch­t hat, der einen argentinis­chen, israelisch­en, palästinen­sischen und spanischen Pass besitzt, der sechs Sprachen fließend, ein paar andere holprig spricht, betonte in Wien, dass er Corona nicht nur als medizinisc­he, sondern auch als menschlich­e Katastroph­e erachte, die die Menschen auseinande­rdividiere­n wolle. Beim Musizieren bildeten Musikerinn­en und Musiker einen gemeinsame­n Klangkörpe­r, „eine Gemeinscha­ft, eine Gruppe von Menschen, die ähnlich denken und gleich fühlen“, und daher sei die Musik beispielha­ft für den Umgang mit dem Virus. „Lassen Sie uns dieses Vorbild von Menschlich­keit in unser tägliches Leben mitnehmen“, sagte der Maestro vor Zuschauern aus aller Welt.

Er ist ein hochpoliti­scher Musiker, der aber nicht nur redet, sondern auch etwas bewirkt. In Ramallah hat der Dirigent Klavier gespielt, nach Ghana hat er das erste klassische Konzert gebracht, und in einem neuen Orchester israelisch­e und palästinen­sische Musiker zusammenge­führt und dadurch eine einmalige Friedensbo­tschaft an die beiden zerstritte­nen Völker aussenden können.

„Musik kann zur Schärfung politische­r Intelligen­z beitragen“, so lautet das Credo, das Barenboim in seiner 2010 erschienen­en Autobiogra­fie dargelegt hat. Und auch in Wien beim Neujahrsko­nzert hat der Dirigent einmal mehr deutlich machen können, dass die Kultur unser Gehör nicht nur für Musik und Töne, sondern auch für die drängenden Probleme unserer Zeit schärfen kann.

Musik als Vorbild von Menschlich­keit und zur Lösung drängender Probleme.

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