Neues Jahr beginnt mit Gewalt
Haitis Premierminister Ariel Henry überlebt Attentat bei einer Gedenkveranstaltung unbeschadet
In Haiti beginnt das neue Jahr so, wie das alte aufgehört hatte. Mit Gewalt, Chaos und einer völlig instabilen Regierung. Das bekam gleich zu Beginn von 2022 der aktuelle Premierminister Ariel Henry zu spüren, als er am 1. Januar bei einem Besuch einer Kirche in der Stadt Gonaïves von Unbekannten beschossen wurde. Videomitschnitte zeigen, wie mehrere Salven von Schüssen in dem Moment auf den Tross des Regierungschefs abgefeuert werden, in dem er zu Neujahr die Kirche verlässt. Henry blieb unverletzt, allerdings starb mindestens ein Mensch, zwei weitere wurden bei der Gewalttat verletzt.
Der Anschlag, den Henry anschließend selbst über seinen Twitter-Account kommunizierte, wurde während seiner Teilnahme an Feierlichkeiten zum haitianischen Unabhängigkeitstag in Gonaïves verübt. Die Stadt, 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt Port-auPrince, ist für ihre Gewalt und für ihre kritische Haltung gegenüber der Zentralregierung bekannt. Hier haben viele der bewaffneten Banden ihren Ursprung, die den Karibikstaat seit Langem terrorisieren.
Henry will nicht nachgeben
Kriminelle Gangs sowie Vertreter der Zivilgesellschaft hatten den Premier vor einem Besuch der Stadt gewarnt. Vor dem Anschlag sei er zudem konkret von einem Bandenboss mit Gewalt bedroht worden. „Mir war klar, dass ich ein Risiko eingehe bei dem Besuch der Stadt“, sagte Henry der französischen Nachrichtenagentur AFP. Er könne jedoch nicht zulassen, dass „Banditen den Staat erpressen“.
Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, hat sich im vergangenen Jahr zu einem fast gänzlich unregierbaren Krisenstaat entwickelt. Anfang Juli wurde Präsident Jovenel Moïse von einem Söldnerkommando bei einem nächtlichen Überfall auf seine Residenz ermordet. Kurz danach übernahm der Arzt Henry die Amtsgeschäfte in dem Land. Für Ende des Jahres geplante Präsidentenwahlen wurden wegen des Chaos nach dem Attentat und eines Erdbebens Mitte August verschoben.
Bis heute ist der Mord an Moïse nicht aufgeklärt. Laut einem Bericht der „New York Times“von Mitte Dezember wurde er getötet, weil er versucht haben soll, eine Liste mit Namen aus der haitianischen Machtelite an die US-Drogenfahndung zu übermitteln. Die Genannten sollen im Zusammenhang mit dem Rauschgiftschmuggel in dem Inselstaat stehen. Nach Angaben der Zeitung nahmen die Attentäter mehrere Dokumente aus Moïses Residenz mit.
Haiti leidet seit Jahren unter Gewalt und einem Staat, der die zentralen Probleme des Landes wie die Armut und die fehlenden Perspektiven für die Menschen nicht in den Griff bekommt. Nach der Ermordung von Moïse stiegen Gewalt und Kriminalität noch einmal stark an. Mehrere Banden wie die „G9 an fanmi“, „400 Mawoso“und „Izo 5 Segonn“sind zu einem Staat im Staate geworden, die den Handel, den Verkehr, die Kreditvergabe und die Justiz kontrollieren, sich durch Entführungen finanzieren und zuletzt vor allem mit der Rationierung des dringend benötigten Benzins auf sich aufmerksam machten. Die Knappheit an Treibstoff führte bereits dazu, dass Krankenhäuser vorübergehend schließen mussten und Unternehmen ihre Produktion einstellten. Vor allem die Hospitäler sind aufgrund eines defizitären Stromnetzes auf Dieselgeneratoren für die Energiegewinnung angewiesen.
Erpressung durch Bandenboss
Jimmy Chérizier, auch bekannt unter dem Pseudonym „Babekyou“ist Chef der „G9 an fanmi“und als solcher vermutlich der derzeit mächtigste Mann des Karibikstaates. Er forderte wiederholt den Rücktritt von Premierminister Henry als Gegenleistung für die Aufhebung des Würgegriffs, mit dem der Bandenboss das Land traktiert. Doch Henry hat diese Forderung immer abgelehnt und beharrt darauf, bis zu den für Mitte des Jahres geplanten Wahlen an der Macht zu bleiben. Gerüchte besagen, „Babekyou“habe im Sold von Moïse gestanden und nach seinem Tod nun selbst die Macht über Haiti übernommen.
Von Januar bis Mitte Dezember wurden nach Angaben des Zentrums für Analyse und Recherche über Menschenrechte 949 Menschen in Haiti entführt, darunter 55 Ausländer aus fünf Ländern. Unter den Opfern waren auch die 17 US-Missionare und Missionarinnen, die im Oktober verschleppt und erst vergangenen Monat wieder freigelassen wurden.