Briten bereiten sich auf Kostenschock vor
Lebenshaltungskosten steigen rasant – schon jetzt ist Armut im sechstreichsten Land der Welt weit verbreitet
Das neue Jahr fängt für die Briten nicht gut an. 2022 werde in Großbritannien „das Jahr der Knappheit“werden, prognostizierte der Thinktank Resolution Foundation letzte Woche. Höhere Steuern, dicke Strom- und Gasrechnungen sowie steigende Inflation würden die Geldbörsen der Normalverdiener arg strapazieren: Die durchschnittliche britische Familie werde ab April, wenn das Finanzjahr beginnt, um 1 200 Pfund pro Jahr ärmer, also um rund 1 400 Euro. Der größte Schock werde die schlagartige Erhöhung der Energiepreise sein. Die britische Regulierungsbehörde legt jeweils den Maximalpreis für Strom und Gas fest, den die Energieversorger den Verbrauchern verrechnen dürfen – im April wird erwartet, dass diese Obergrenze um 500 Pfund pro Jahr heraufgesetzt wird.
Energiefirmen insolvent
Die schnell wachsenden Energiepreise auf dem globalen Mark haben in den vergangenen Monaten bereits etliche britische Firmen in den Bankrott getrieben; der Großteil ihrer Kunden war hingegen durch den Kostendeckel geschützt. Im neuen Finanzjahr jedoch werden sie zur Kasse gebeten. „Dieser Anstieg wird unverhältnismäßig ärmere Familien treffen, weil sie einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Energie aufwenden müssen“, schreibt die Resolution Foundation. Niedrigverdiener werden künftig zwölf Prozent ihres Einkommens für Strom- und Gasrechnungen ausgeben müssen, heute sind es lediglich 8.5 Prozent. Der Thinktank befürchtet, dass es zu einer „Lebenshaltungskosten-Katastrophe“kommen könnte. Die steigenden
Energiekosten sowie die Lieferengpässe in vielen anderen Branchen haben zudem einen scharfen Anstieg des allgemeinen Preisniveaus bewirkt: Im Dezember erreichte die Inflation in Großbritannien 5.1 Prozent – so hoch war sie zuletzt vor dreißig Jahren. Laut Prognosen der Bank of England, der britischen Zentralbank, könnte die Inflation 2022 sogar sechs Prozent erreichen. Das wird sich auch auf die Reallöhne auswirken: Der Trades Union Congress, der Dachverband der Gewerkschaften, prognostiziert, dass die Löhne für Normalverdiener in den kommenden fünf Jahren um gerademal 0.6 Prozent pro Jahr steigen werden.
Bereits im Juli hatte die Kommission für soziale Mobilität, die die Regierung berät, gewarnt, dass die Pandemie eine „verheerende Wirkung“habe, die man auf Jahrzehnte spüren werde: Kinderarmut, Einkommensungleichheit, Zugang zu angemessener Behausung und Jugendarbeitslosigkeit würden sich durch die Coronakrise noch weiter verschlechtern: „Es besteht ein großes Risiko, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vergrößert.“Die Folgen der Pandemie überlagern sich mit bereits bestehenden Ungleichheiten – so wird beispielsweise der ärmere Norden Englands viel stärker getroffen. Die Northern Health Science Alliance kommt in einem Bericht zum Schluss, dass die Pandemie die Lebensdauer für Kinder in manchen nördlichen Regionen weiter verkürzen wird: Demnach beträgt die Lebenserwartung in der nördlichen Küstenstadt Blackpool gerade mal 68.3 Jahre für Jungs, im reichen Kensington and Chelsea hingegen, im Zentrum Londons gelegen, liegt sie bei über 95 Jahren.
Schon vor der Pandemie war die Zahl der Kinder, die in mittellosen Haushalten aufwachsen, stetig gestiegen. Laut einer Studie der Loughborough Unversity leben derzeit 4.3 Millionen Kinder in Armut – 500 000 mehr als fünf Jahre zuvor. Auch die Obdachlosigkeit hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen, zudem besuchen immer mehr Menschen Gassenküchen und Essensausgaben, weil sie knapp bei Kasse sind.
Folgen der Austeritätspolitik
Als Grund für die soziale Not im sechstreichsten Land der Welt machen Ökonomen nicht zuletzt das Sparprogramm verantwortlich, das die Regierung unter Premier David Cameron 2010 startete. Die öffentlichen Ausgaben wurden damals drastisch runtergefahren, sie sind von 42 Prozent des Bruttoinlandprodukts im Jahr 2009 auf 35 Prozent zehn Jahre später gesunken. Gespart wurde überall – von der Bildung über die Gesundheitsausgaben bis zur sozialen Sicherung. Die Folgen waren so dramatisch, dass sie in England zu einer Verschlechterung der Gesundheit beigetragen haben, insbesondere bei jenen, die bereits in ärmeren Verhältnissen leben, schrieb das Institute for Health Inequality 2020 in einem ausführlichen Bericht: Zum ersten Mal seit über hundert Jahren sei die Lebenserwartung sogar zurückgegangen.
Selbst die Uno kritisierte die britische Sozialpolitik 2019 mit außergewöhnlich scharfen Worten: Das Sparprogramm sei „ein ideologisches Projekt, das Schmerz und Elend verursacht“, sagte der damalige Uno-Sonderberichterstatter zu extremer Armut, Philip Alston.