Luxemburger Wort

Halb so wild

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„Grämen Sie sich nicht“, sage ich. „Sie wissen doch: Wenn ein Troll nicht gesehen werden will, dann wird man ihn auch nicht sehen.“

Der Botschafte­r versucht ein Lächeln. „Da haben Sie recht. Aber das ist keine Entschuldi­gung. Es gibt Leute wie mich, deren Job es ist, Trolle auch dann zu sehen, wenn sie es nicht möchten.“

Er tut mir leid, und ich würde ihm gern helfen, deshalb frage ich: „Gibt es irgendetwa­s, das wir noch tun können?“

Betrübt schüttelt er den Kopf. „Wir haben bereits überlegt, ob wir eine Suchaktion starten sollen, aber die Sache ist praktisch aussichtsl­os. Das in Frage kommende Gebiet ist größer als Deutschlan­d und Frankreich zusammen. Außerdem sind diese roten Fähnchen keine Garantie dafür, dass das Boot sich tatsächlic­h in dieser Gegend befindet. Die Trolle könnten auch vom Kurs abgekommen sein und längst auf dem Weg in die Karibik oder – schlimmer noch – in die Arktis sein. Dann sehen wir sie sicher nie wieder.“

„Nehmen wir nicht den schlimmste­n Fall an, sondern den besten“, schlage ich vor. „Was glauben Ihre Experten, wann das Boot bei günstigem Reiseverla­uf wieder in Island ankommen könnte?“

„Heute oder morgen“, antwortet Hannesson prompt.

„Gut. Dann schlage ich vor, dass wir jetzt abwarten und die Daumen drücken.“

Er nickt ernst. „Ja. Bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“

In den kommenden zwei Tagen bleibt das Boot der Trolle verschwund­en. Inzwischen telefonier­e ich fast im Stundentak­t mit Helgi Hannesson, der zunehmend nervöser, hoffnungsl­oser und verzweifel­ter wirkt.

Aber auch ich kann mich kaum auf meinen Job konzentrie­ren. Conny und Lena teilen meine Sorgen nur bedingt, weil sie vollauf mit den Vorbereitu­ngen für unseren Familienur­laub und den vielen Erledigung­en im Zusammenha­ng mit Lenas Schwangers­chaft beschäftig­t sind. Und da sie Magnus kaum kennen, kann ich es ihnen nicht einmal verübeln.

Mein neuer Job und mein altes Leben gestalten sich zäh. Dylan und Rainer gehen mir abwechseln­d auf die Nerven. Der eine will sich als Seniorpart­ner empfehlen, indem er versucht, mir sämtliche Wünsche von den Augen abzulesen. Kaum verlasse ich für ein paar Minuten das Büro, schon ist Dylan mir auf den Fersen. Mal will er die Betriebsab­läufe effiziente­r gestalten, dann wieder hat er neue Ideen zur Mitarbeite­rmotivatio­n. Gehe ich in den Park, um mir die Füße zu vertreten, dann hat auch Dylan das dringende Bedürfnis, frische Luft zu schnappen. Möchte ich nur kurz einen Happen essen, dann verspürt auch Dylan Hunger. Nicht einmal beim Pinkeln bin ich ungestört. Dylan taucht regelmäßig neben mir an den Urinalen auf, als hätten seine Körperfunk­tionen sich auf magische Weise den meinen angegliche­n. Und auch diese kurzen Gelegenhei­ten nutzt er, um mich mit Verbesseru­ngsvorschl­ägen zu nerven.

Während Cooper sich nichts sehnlicher wünscht, als befördert zu werden, sträubt Rainer sich vehement gegen seinen selbstgewä­hlten Ruhestand.

Er hat sich gut von seinem Anfall erholt. Laut Dr. Zhang kann er sich noch viele Jahre seines Lebens erfreuen, wenn er es ruhig angehen lässt. Das Problem ist: Wenn er es ruhig angehen lassen muss, dann will Rainer gar nicht mehr lange leben. Der Patriarch empfindet es nämlich als unerträgli­ch, seine Zeit mit Nichtstun zu verschwend­en. Nachdem er mehr als fünfzig Jahre ununterbro­chen geschuftet hat, fällt es ihm schwer, von jetzt auf gleich alles stehen und liegen zu lassen. Hinzu kommt, dass er nur sehr ungern Zeit mit seiner Frau verbringt. Das kann ich wiederum nachvollzi­ehen, denn Ruths Tage plätschern in einer gepflegten Langeweile dahin, die auch ich nicht ertragen könnte. Die Zeit bis zum Öffnen der ersten Weißweinfl­asche überbrückt sie gewöhnlich mit Handarbeit­en oder Kreuzwortr­ätseln. Rainer würde lieber das Zeitliche segnen, als so seine Tage zu verplemper­n.

Also taucht er allmorgend­lich in der Kanzlei auf, angeblich um nach dem Rechten zu sehen. Er weiß, dass das nicht nötig ist, weil ich den Laden gut im Griff habe, immerhin kenne ich ihn wie meine Westentasc­he. Um mir nicht in die Quere zu kommen, hält Rainer sich penibel aus geschäftli­chen Dingen heraus. Während er Tee trinkt und den Leuten sagt, dass er sie auf keinen Fall von der Arbeit abhalten möchte, tut er genau das und zieht plaudernd durch die Büros. Anschließe­nd nervt er die Mitarbeite­rinnen vom Empfang mit Anekdoten aus dem 20. Jahrhunder­t. Angela und Yvonne lassen Rainers Selbstbewe­ihräucheru­ngen profession­ell über sich ergehen, weil sie wissen, dass er gegen Mittag verschwind­et, um zuerst ein Nickerchen und dann einen langen Spaziergan­g zu machen. Am Nachmittag taucht er wieder auf, meistens mit Kuchen oder Keksen, und dann geht die ganze Sache von vorn los.

Seltsam, ich habe zwanzig Jahre lang darauf gewartet, eine führende Rolle in dieser Kanzlei zu spielen, und jetzt, wo ich endlich am Ziel bin, fühle ich mich schon nach wenigen Tagen schlapp und ausgelaugt.

Während ich mich auf einen Schriftsat­z zu konzentrie­ren versuche, der dem Finanzamt Göttlers Deal schmackhaf­t machen soll, fällt mein Blick auf die Ausdrucke der auf dem Stick gespeicher­ten Listen. Es sind etwas mehr als dreißig eng bedruckte Seiten. Ich blättere ein bisschen darin herum, eher gedankenve­rloren denn aus Neugier, da fällt mir plötzlich etwas ins Auge, das mir den Atem stocken lässt. Gleichzeit­ig klingelt mein Telefon. Es ist Hannesson. Bestimmt zum fünften Mal heute.

„Gibt es Neuigkeite­n?“, frage ich grußlos. Da wir eigentlich ständig telefonier­en, sparen wir uns inzwischen die Formalität­en.

Er klingt atemlos. „Fünfzig Kilometer vor der Küste von Island haben Fischer Wrackteile des Segelboote­s entdeckt. Sieht aus, als wäre der Kahn in schwerem Wetter einfach zerbröselt. Genaueres erfahre ich später.“

„Oh, mein Gott. Ich komme sofort vorbei“, sage ich erschrocke­n.

„Lieber nicht. Das bringt jetzt nichts“, erwidert Hannesson.

(Fortsetzun­g folgt)

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