„Der erste Drehtag war ein kleiner Schock“
Jessica Chastain über ihren neuen Film „The 355“, die Rolle der Geschlechter und ihren italienischen Ehemann
Die Zeit ist reif für einen Agententhriller mit ausschließlich weiblichen Protagonistinnen, befand Hollywoodstar Jessica Chastain. Und nicht nur das: Die kluge Feministin ersann außerdem ein neues Finanzmodell, das den Stars nicht nur Profit garantierte, sondern völlige künstlerische Kontrolle. Ab heute ist der Agentinnenthriller „The 355“in den Kinos zu sehen – mit einem internationalen Ensemble, das sich sehen lassen kann: Neben Initiatorin Jessica Chastain spielen Penélope Cruz, Diane Kruger, Fan Bingbing und Lupita Nyong’o die Hauptrollen.
Jessica Chastain, was hat es mit dem Filmtitel „The 355“auf sich? Was besagt diese Zahl?
Der Titel bezieht sich auf eine historische Tatsache. „355“war der Codename einer weiblichen Agentin in Washington während des Revolutionskrieges, deren echter Name bis heute unbekannt ist. In Spionagekreisen bezeichnet die Zahl 355 Frauen, die im Hintergrund wirken und den Lauf der Geschichte positiv verändern – daher wurde 355 auch ein Kürzel für Ehre. Das erzählte mir eine echte Agentin just zu der Zeit, als ich diesen Film vorbereitete. Bingo – das war mein Filmtitel. Ich möchte damit eine echte Heldin ehren.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Projekt so völlig neu zu finanzieren und zu produzieren?
Es begann mit meiner Tätigkeit als Jurymitglied beim Filmfest in Cannes. Ich war etwas traurig, dass die Regisseurinnen unterrepräsentiert waren. Ich war auch enttäuscht, so viele Poster mit einem Haufen männlicher Hauptdarsteller zu sehen – Cannes ist ja ein unglaublich wichtiger Markt für neue Filmprojekte. Ich habe mit meiner Agentin über dieses auffällige Ungleichgewicht gesprochen, und wir kamen zu dem Schluss, dass wir etwas dagegen tun müssen. Beim Dreh zu „Zero Dark Thirty“habe ich sehr viel über Frauen in der internationalen Spionage gelernt. Mit diesem Wissen ist eine Idee entstanden, die ich den Kolleginnen vorgestellt habe.
Als Sie Penélope Cruz und die anderen anriefen, wie pitchten Sie ihnen Ihre Idee?
Ich habe jede Einzelne gefragt: „Wie wäre es, wenn wir einen Blockbuster-Film machen, der Frauen auf der ganzen Welt für ihren Intellekt und ihre Talente feiert und wertschätzt?“Und meine zweite Frage war dann: „Was, wenn wir diesen Film selbst produzieren? Wenn wir das Geld investieren, damit wir die Chefinnen sein können, die entscheiden, wie dieser Film aussehen wird?“Für mich war vor allem die zweite Frage entscheidend, denn sie war ein politischer Akt, um die Strukturen der alteingesessenen Filmwirtschaft aufzubrechen.
Das ist ein gewagtes Experiment, ein Hollywoodsystemsprenger …
Dass wir am ersten Drehtag alle da waren und wirklich diesen
Film finanziert bekamen, war ein kleiner Schock ... Es war surreal, zum ersten Mal wirklich die Kontrolle zu haben. Aber auf dem langen Weg zu diesem ersten Drehtag hatte ich so viel Unterstützung und Zustimmung bekommen, dass das Unmögliche tatsächlich möglich wurde. Die Zeit war einfach gekommen.
Finden Sie, dass Frauen besser zusammenarbeiten als Männer?
Gerade befinde ich mich an einem interessanten Punkt in meinem Leben. Ich versuche die Dinge nicht mehr durch den Filter der verschiedenen Geschlechter zu sehen. Ich fordere mich selbst dazu heraus, einen Menschen als Menschen zu sehen – nicht als Mann oder Frau. Den Leuten so zu begegnen, ist wirklich spannend, weil dann Stereotype wie „Männer sind so, Frauen sind so“zusammenbrechen. So finden wir heraus, was uns einzigartig macht, unabhängig davon, wie die Welt einen sieht, statt die Individualität der Menschen durch Schubladendenken auszulöschen. Ich würde so antworten wollen: Wie gut Menschen zusammenarbeiten, hängt davon ab, wie sie erzogen wurden, und nicht welches Geschlecht sie haben.
Die Rollen als Agentinnen waren vor allem in den Action-Sequenzen eine körperliche Herausforderung.
Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, und gab es Verletzungen?
Erst mal muss ich sagen, dass wir unsere Stunts so gut es ging selbst erledigt haben. Natürlich hatten wir Stuntdoubles, wenn es körperlich gar nicht anders ging. Aber ansonsten haben wir uns da durch ein paar richtig harte Szenen gekämpft, auf die wir uns unglaublich intensiv vorbereitet haben. Trotzdem habe ich mich einmal verletzt. Das war nicht bei meinem großen Kampf mit Diane, der sieht auf der Leinwand ja am brutalsten aus. Es war eher eine Kleinigkeit. In einer Szene werde ich zu Boden geschlagen und soll richtig hart auf dem Marmorboden aufschlagen. Nun, sagen wir so: Ich habe die Distanz zwischen meinem Kopf und dem Boden falsch eingeschätzt und bin viel zu hart aufgekommen. Ich habe es noch knacken hören und dachte mir: „Oh, das war’s“. Alle am Set sind erstarrt. Ich hatte dann einen ziemlichen Bluterguss, aber wir mussten die Dreharbeiten nicht abbrechen.
Lassen Sie als Schauspielerin zu, dass etwas von einer besonders intensiven Rolle auf Sie selbst übergeht?
Ja, das kann wirklich manchmal eine vertrackte Situation sein. Denn je mehr man sich auf eine Rolle einlässt, desto schwieriger ist es, sie nach Drehschluss wieder gänzlich hinter sich zu lassen. Ich habe einige dieser Gefühle definitiv mit nach Hause genommen. Aber ich habe einfach das Glück, einen wahnsinnig lieben Ehemann zu haben, der mich in dieser emotionalen Zeit voll und ganz unterstützt.
Ist Ihr Ehemann Gian Luca Passi de Preposulo Ihr Regulativ, sorgt er auch wieder für angemessenen Ausgleich?
Mein Mann Gianluca ist Italiener. Seitdem verbindet mich auch sehr viel mit Italien, besonders mit dem Veneto. Mit dieser Region bin ich genauso verheiratet ... und es ist herrlich. Im Sommer sind wir zwei ganze Monate nur durchs Land gereist, und ich habe so ziemlich jede Pasta-Sorte durchprobiert, die dieses Land hervorgebracht hat. (lacht) Es war eine köstliche Erfahrung! Meine Heimat ist New York, aber in Italien fühle ich mich zuhause.
Ich war auch enttäuscht, so viele Poster mit einem Haufen männlicher Hauptdarsteller zu sehen.
Ich fordere mich selbst dazu heraus, einen Menschen als Menschen zu sehen.